Der Bambusvogel - Stefan Weinert (c)
D E R B A M B U S V O G E L
(c) Stefan H. Weinert (2003 - 2009)
Auf dem Hochland (1)
Am westlichen Rand des Reiches, in der Einsamkeit, nahe dem Flusse, dort wo die Rong-Steppe bald beginnt, hatte Yüo seine neue Heimat gefunden. Das Hochland war nach den Armeepferden benannt. Sie gehörten zum Gestüt der ersten Kaiser. Wegen seiner Grenzlage aber wurde diese Gegend von den späteren Machthabern vernachlässigt. Zwischen der Hütte und der Hochebene lag Baumland – wohl zwölf Li oder zwei fingerbreit Sonne. Schlank waren die Tannen, mächtig die Zedern und sanft die Birken. Dazwischen geduckt, Buschwerk mit schmackhaften Beeren – rot, gelb und blauschwarz. Im beharrlichen Wind erfüllte ein flüsterndes Rauschen die Gegend. Die Hütte war umgeben von schattenspendenden Bäumen und sie reichten nach Norden hin dem Walde die Hand. Äste einer mächtigen Kastanie wölbten sich schützend über das Dach des kleinen Hauses. Samen von Tamarisken und Kameldorn hatte sich mit den herbstlichen Stürmen von der weit entfernten Wüste Gobi nach hier in den Garten verirrt. Yüo ließ sie sich entfalten, und die Erdtriebe gruben sich bis zu hundert Chi tief in den Hang. Die Schoten aber der Tamarisken wurden von den Ziegen gern gefressen, denn sie waren schmackhaft salzig, und auch der Kameldorn wurde regelmäßig seiner bitteren Rinde wegen geschält.
Ben gu zhi rong - wenn die Wurzeln tief reichen, dann gedeihen die Zweige.
Hatte der Wanderer den Wald nach Norden hin durchschritten, lag vor ihm ein atemberaubend schönes Plateau. Grüngoldenes Langhalmgras, das im fortwährenden Wind stöhnte; Achillenkraut, das der Gegend den scharfen Atem gab; Blumen von schönstem Gelb, zart mit Rot umrandet, von hellem Violett kandiert mit Eierschalenweiß, von Blau mit grünem Kranz und schwarz gepunktet; Moos so weich wie Samt; prächtige Schmetterlinge in allen Farben; schöne Libellen, eifrige Bienen, surrende Mücken, im Sonnenlicht blank schillernde Käfer und viel Gewürm.
Eine befestigte Strasse zu der Hütte des jungen Bauern gab es nicht. Ein bepacktes Maultier, angefeuert von seinem Treiber, ein gezogener kleiner Karren, eine Herde von Ziegen und eine Schar von Hühnern mochten sich vielleicht gerade auf den schmalen und versteckten Saumpfaden bewegen - doch nicht ohne Stockhiebe, nicht ohne zurückschlagende Äste, nicht ohne Flüche ging es. So war Yüo nach hier gekommen. Der gesicherte Weg aber, auf dem ein Ochsengespann oder eine Karawane mit Kamelen und Pferden gut vorwärtskommen konnte, führte zwei Tagesreisen jenseits dieser Gegend vorbei. Nur selten jedoch zogen zu dieser Zeit Reisegesellschaften durch das Herzogtum Qinghai. Vor allem galt die Präfektur Qaidam als höchst unsicher. Immer wieder gab es argwöhnische und üble Gesellen am Wegesrand. Das war die Bande des geächteten Prinzen Liu Xiu aus der Familie der Han. Mit seinen beiden Halbbrüdern hatte er gut fünfhundert raue Gesellen um sich geschart. Als Erkennungszeichen hatten sie sich die Stirne mit Henna eingefärbt. Die „Roten Augenbrauen“ aber raubten reiche Händler aus, um davon zu leben und um die restliche Beute unter den Armen zu verteilen. Vom einfachen Volk wurden sie deshalb geliebt und geachtet und von seinen Frauen begehrt. Von Adligen und anderen Wohlhabenden aber gefürchtet. Von den Soldaten des Herrschers wurden sie durch das ganze Land verfolgt. So waren es denn vorwiegend Einfache und Gemeine, Einzelgänger, Pilger und Eremiten, die sich zu dem Anwesen des Yüo trauten oder, wie es manchmal geschehen konnte, gar verirrten.
Auch die wenigen Freunde, vor allem Chang Tou-fa, kamen hin und wieder, um mit dem Sohn des gemeinen Bauern Ku eine Schale Tee zu trinken. Dann gab es eine Zeit des Austausches von Weisheiten und Neuigkeiten, um anschließend das Schweigen zu pflegen. Es konnte aber auch geschehen, dass Yüo - sah er einen Wanderer nahen - so tat, als hätte er diesen nicht wahrgenommen. Oder aber, er ließ ihn kurz verweilen und forderte ihn dann bald grob auf, wieder zu gehen. Er tat alles so, wie es ihm beliebte und Rücksicht auf die anderen oder die allgemeinen Gepflogenheiten nahm er dabei nicht. Er war manches Mal gerne alleine in seiner Welt, voll mit Schwermut, voll mit Kummer, voll mit Hoffnungslosigkeit und Selbstmitleid. An solch einsamen Tagen sprach er mit den Tieren, als wären sie Menschen. Yüo lebte in dem Bewusstsein, dass er sein Verweilen auf Erden jetzt in den Lauf der Geschichte einbringen konnte. Denn wie jedes menschliche Wesen hatte auch er etwas Göttliches in sich, etwas Einzigartiges, das ihm Eltern und Voreltern hinterlassen hatten. Daran glaubte er fest. Alles lag tief verborgen und nur Weniges kam in dieser oder jener Form ans Licht. Der Sohn des Bauern Ku erkannte, dass Vieles verschüttet war, wie die Mauern und Türme einer einst schönen Tempelanlage unter dem Staub der Jahrhunderte. Es war nun seine ureigenste Lebensaufgabe, Schicht für Schicht abzutragen, um sein Selbst und damit die Göttlichkeit zu finden. Durch Besinnlichkeit und Vertiefung wäre es möglich, dachte er und würde er das alles im Dunkel seiner Seele lassen, dem Kosmos entginge damit ein weiterer Funke des ewigen göttlichen Lichtes. Ein kostbarer Edelstein im himmlischen Mosaik würde für immer fehlen. Davon war Yüo überzeugt. So sog der junge Mann mit Dankbarkeit an jedem neuen Morgen die natürliche und wunderbare Luft ein. Mit allen möglichen scharfen, süßen und herben Düften war sie erfüllt - Weltenenergie vom Himmel und Lebenskraft aus dem Boden. Dann dankte er den Göttern für das Wiedererwachen.
Yüo staunte über die Vielfalt der Natur. Er konnte es genießen, den Schmetterlingen nachzusehen, den Vögeln zuzuhören und ihre Gestalt zu bewundern, die rotbraunen Eichhörnchen zu beobachten, und angesichts der dahin ziehenden Wolken in Träumen dahinzuschweben. Das Leben war schön und konnte ein Paradies sein - jedenfalls solange Einfachheit, kindliches Staunen und Vertrauen, Zufriedenheit und Dankbarkeit für die kleinen Dinge seine Weggefährten waren.
Was du im Himmel suchst, das kannst du auf Erden finden.
Manchmal saß Yüo in seinem Garten und dachte bei sich, wie seltsam und wunderbar es doch war, zu leben. Atmen, denken, träumen! Mit den Augen die Fenster zur sichtbaren Welt öffnen, mit den Ohren in die Halle der vielen Klänge eintreten und mit dem Mund Unvergängliches schaffen! Yüo gelangen keine großen Dinge, aber er entdeckte in der unscheinbarsten Blume den Himmel; er brachte es nicht zu Ruhm und Ehre unter den Menschen, aber kaum jemand sprach so vertraut mit den Göttern; er hatte nicht viele Freunde, dafür aber konnte er die Widrigkeiten auf seinem irdischen Weg in Lieder oder Gedichte verwandeln. Aber Yüo war beileibe kein Makelloser, er war kein Engelwesen. Manchmal war er hart und abweisend. Er konnte sehr wohl die Seele eines Mitmenschen durch unpassende Worte verletzen. Dazu war Yüo auch sehr selbstbezogen und dachte im Umgang mit anderen immer zuerst an sich. Dies war die andere Seite der Münze. Dunkle Flecken hatte Yüo genug.
Nur wo ein Licht scheint, gibt es auch Schatten!
Manchmal meinte Yüo sich am Ziel, zuweilen aber zweifelte er über die Richtigkeit seines Weges. Es schien ihm immer, als wandere er auf dem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Blindheit, Überzeugung und Zweifel, Gewissheit und Trugschluss. Tröstend für ihn war die Tatsache, dass auch das größte Meer sich nur langsam zu seiner Tiefe senkt und am Beginn flach ist. Das Meer fällt nicht gleich am Ufer schon steil ab, sondern fällt Schritt für Schritt. So war es auch wichtig, mit sich selbst geduldig zu sein und nicht gleich alles für sein Leben zu erwarten. – Das Tao zu finden, war eine Lebensaufgabe.
Verletzungen (2)
Blutrot hatte die Sonne begonnen, sich vom Tag zu verabschieden. Unbekümmert und auch ungestüm war Yüo an jenem Sommerabend in eine hohe, schlanke Kiefer unweit des Anwesens seiner Eltern geklettert. Nur einen kleinen Moment war er unvorsichtig gewesen. Aus dem Wipfel des Baumes stürzte der Junge in die Tiefe. Niemand war da, der ihn davor bewahrte, niemand war da, der ihn auffing, niemand war da, der dies verhinderte. Als die Geschwister und Freunde den Schrei des Jungen hörten und ihn dann da so leblos am Boden liegen sahen, eilte Yüos kleine Schwester zu der Ma und einer der Freunde lief zu dem Vater auf das Feld. Versammelt unter dem Baum, bot sich allen ein schreckliches Bild. Durch die tiefe Risswunde quer über der rechten Wange und durch den Spalt über dem Auge war das bleiche Kindergesicht mit einem schrecklichen Kontrast versehen. Auch dem herbeigerufenen Lebensheiler gelang es nicht, Yüo zu erwecken. Er tastete Brust und Bauch des Opfers ab. Es gab wohl keine Verletzungen im Innern und auch Beine und Arme schienen unversehrt. Doch ging der Atem des Jungen sehr flach und kraftlos, und verborgen war sein Aderschlag. Erst auf der dritten Ebene konnte der Yisheng den Puls erfühlen. Nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her. Auch wenn die Hoffnung weit entschwunden schien, wie die Sonne jetzt hinter den Weinbergen, so gab der Heiler den Jungen doch nicht auf. Kunstvoll vernähte er auf Hoffnung hin und mit großer Sorgfalt die Wunden des Jungen und legte ihm seine Hand auf. Die Eltern trugen das Kind im ersten Schleier der anbrechenden Nacht vor den Hausaltar. Es wurden Lampions und Butterkerzen entzündet und der Junge wurde mit Lotoswasser besprengt. Die Familie legte Weihrauch in die Glut des Herdfeuers und flehte in langen Gebeten zu den Vorfahren und Geistern und zu den Göttern.
War es Schicksal oder Fügung, Glück oder Wollen? Hatten es die Götter so geführt? In jenen Tagen nämlich war eine kleine Schar von Mönchen durch den Ort gezogen und hatte auf dem Nachbargehöft Unterschlupf gefunden. Der Vater begab sich noch am Abend nach dort und bat den ältesten der heiligen Männer in sein Haus. Unterwegs berichtete er dem Mönch von dem, was geschehen war und wie sehr er den sterbenden Jungen liebte. Der Priester aber legte dem kleinen Yüo die Hand auf, salbte ihn mit Olivenöl und tat tief versunken und kaum hörbar Fürbitte. Nach einer Gabe der Eltern in die Almosenschale kehrte der Weise zu seinen Novizen zurück. Dann - nach drei Tagen - erwachte der schon tot Geglaubte auf seinem Lager. Es erschien allen wie ein Wunder vom Himmel. Die Mönche aber waren schon tags zuvor weitergezogen. Morgens und abends flößte nun die Mutter dem kranken Jungen Ren-Shen Tonikum, das bei einem schwachen Puls verwendet wird, ein und mischte Pulver der Süßholzwurzel unter den Hirsebrei. Yüos Gesicht aber war durch die vernähten Wunden entstellt. Doch die Genesung schritt voran. Es war aber nicht nur die Medizin und die Fürsorge des Arztes, und es waren nicht nur die Segnungen durch den Fremden, die ihn genesen ließen. Es war auch der tiefe und feste Glaube seiner Eltern, der ihm das Leben erhielt. Erst nach einem Monat durfte der Junge das Haus zum ersten Male wieder verlassen. Doch bis hinein in das hohe Alter konnte sich Yüo an das Hinaufklettern in den Baum und den Sturz in die Tiefe nicht erinnern.
Im Jahr nach dem Unfall sandten die Eltern den Knaben gemeinsam mit dem älteren Bruder nach Songpan an den See der Kraniche, damit sie sich erholten. Der eine von seinem Unfall, der andere von seiner Arbeit auf den väterlichen Feldern. Das Klima am Kranichsee war mild und heilsam. Doch Yüo weinte drei Tage und drei Nächte, weil er den Verlust von Mutter und Vater befürchtete. Der reifere Bruder, die Heiler, die Pfleger und Erzieher bemühten sich sehr um den Jungen. Der Heiler aber untersuchte jedes der Mädchen und jeden der Jungen gründlich. Als Yüo bei ihm war und der Arzt seinen Puls gefühlt, ihn abgeklopft und ihn befragt und sein Ohr an sein Herz gelegt hatte, sah er den Kleinen besorgt an. „Du darfst nicht wie die anderen herumtoben, du darfst nicht schnell mit den anderen um die Wette laufen. Deine Schritte sollten bedächtig sein.“ Yüo hatte den Yisheng nur mit großen und unschuldigen Augen angesehen und außer einem kurzen „Shi“- ja, jawohl, so sei es - hatte er nichts gesagt, sondern nur brav mit dem Kopf genickt. Doch innerlich war es in seinem kleinen Herzen anders beschlossen. Später im Alter wünschte sich der Sohn des Bauern Ku, er könnte so unbefangen sein wie damals. Wie viel leichter ließ sich damit leben! Besonders tat Yüo die Nähe seiner Aufseherin gut. Zu Beginn der nächtlichen Ruhe kam sie in den Schlafsaal, beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Lippen. Er spürte ihren Atem und empfing die unsichtbaren Strahlen ihrer Weiblichkeit. Bei den geistlichen Übungen und Andachten im Betsaal fasste sie seine Hand, oder nahm den Yüo auf ihren Schoß. Die Aufseherin ging auch zu den andern Betten. Dort tat sie aber nicht so.
Die Schrecken der Trennung waren bald überwunden und auch diese Monate vergingen, wie alles im Leben vorübergeht, und beide Jungen kehrten gestärkt in die Heimat zurück.
Bai chuan gui hai – alle Flüsse münden in das Meer; alle Dinge weisen in eine Richtung.
Seelenheil und Seelenqual (3)
Es gab im Leben Yüos noch ein weiteres und bedeutendes Erlebnis. Der Junge war trotz des Unglücks bei der hohen Kiefer ein sehr gelehriger und aufnahmefähiger Mensch. Seine Lehrerin erkannte bald, dass er zu Höherem berufen war. In der Hütte der Erzieherin lernten täglich wohl ein Dutzend Mädchen und Buben, doch der Junge mit den Schmissen im Gesicht übertraf sie mit seinen Kenntnissen und seinem Scharfsinn alle. Aber in einem jener Jahre geriet der Gelbe Fluss durch ein lang anhaltendes Unwetter sehr schwer über die Ufer und zerstörte nicht nur das elterliche Haus, sondern machte auch die Felder und Hänge mit den Weinstöcken um die Stadt Yushu für lange Zeit unfruchtbar. Alles sah hier aus, als müsste die Welt neu geschaffen werden. Der Präfekt dieses Landstriches bot dem Vater der Familie Ku Grund und Boden drei Tagesreisen weit von der bisherigen Heimstätte an. Dieser Flecken lag jenseits des Flusses und war vom Unwetter verschont geblieben. Sehr bald darauf siedelte die Familie also nach der Stadt Qamdo um. Doch Yüos Qi versiegte mehr und mehr. War der Fluss seines Wissens bisher und trotz des Sturzes von der Kiefer in Harmonie, so wurde dieser Einklang durch die fehlende Einfühlsamkeit und das mangelhafte Interesse der neuen Erzieherin bei dem Jungen zerbrochen. Sie gab den Kindern Aufgaben, aber ihre Ergebnisse interessierten sie nicht. Sie überließ sie in vielen Stunden sich selbst und vergnügte sich derweil anderweitig. Sie hatte die Jungen und Mädchen voneinander getrennt und unterrichtete jede Gruppe gesondert. In der Jungenklasse aber herrschte ein grober und sittenwidriger Ton. Dies alles war für die zarte Seele Yüos zuviel. Innerhalb weniger Monate schlug die einstige Begeisterung des Jungen in Gleichgültigkeit und seine Leistungen ins Mittelmaß um. Yüo fühlte sich alles andere als wohl, aber wer weiß, was aus Yüo geworden wäre, hätte es auch dieses Vorkommnis nicht gegeben! War nicht auch der Sturz aus der Kiefer letztlich ein Segen für ihn geworden! War das nicht der Beweis eines lebensbejahenden Gottes! Den Schatten des Berges, gibt es ihn nicht nur deshalb, weil die andere Seite von der Sonne beschienen wird! Waren nicht im Fluss der Zeit, nach der Hälfte des Tages, Licht und Dunkel gewandert! Wurden nicht die hohen und schlanken Bäume geschlagen, um aus ihnen Hütten, Schiffe und Kriegsgerät zu bauen und bleibt nicht der Baum verschont, dessen Früchte ungenießbar, dessen Blätter unansehnlich , dessen Äste knorrig und krumm sind und dessen Stamm bucklig ist! Ja, mitunter galten solche Bäume gar als heilig!
Zai jie nan tao – keine Flucht gibt es vor dem, was der Himmel will.
Nie würde der Junge vergessen, wie der Vater einst unter einer schweren Erkrankung der Nieren litt. Sein Körper war von innen her vergiftet und die Auswirkungen auf sein Gemüt waren furchtbar. Unberechenbar schrie er Weib und Kinder an. Als Yüo einmal alleine mit seinem Vater in der Kammer saß, wurde dieser wieder ungerecht und redete wirre Worte. Er drohte, die gesamte Familie zu töten, denn alle wären mit ihm ungerecht und hätten sich gegen ihn verbündet. Ihn jedoch – Yüo - wolle er leben lassen, denn er sei anders als die Brüder und Schwestern und die Mutter. Das Gesicht des geliebten Vaters war von Wut und Bosheit verzerrt, die Worte klangen wie Hiebe der Axt auf Eisen, die Augen funkelten wie Blitze. Vor dem Jungen saß ein Fremder und er flehte zu diesem, es nicht zu tun und berichtete es später der Ma. Die Ma rief den Arzt. Der gab dem Vater nicht nur Medizin, sondern er sprach auch lange mit dem Weinbauern. Den Göttern sei es gedankt, dass bald Genesung geschah. Der Vater trat vor die Familie und bat um Nachsicht. Natürlich wurde sie gewährt, aber die Drohung blieb in den Seelen haften. Es mussten noch sehr viele Jahre vergehen, bis Yüo seinem Vater von Herzen vergeben konnte, obwohl dieser dann schon in der Schattenwelt weilte. Nun tat es ihm furchtbar leid, dass der Vater gegangen war und vieles von dem, was er noch vorhatte, nicht hatte verwirklichen können. So nahm sich Yüo vor, es an seiner Stelle zu vollbringen. Vor dem Altar der Ahnen sprach er mit dem Vater darüber, bat ihn um Vergebung und gewährte sie auch ihm.
Yüo war dankbaren Herzens für das Geschenk des Lebens. Da aber der große Meister Kong schon vorzeiten davon gesprochen hatte, dass Maß und Mitte das Höchste sind, kämpfte Yüo darum, diesen Pfad zu beschreiten. Ihm war bewusst, dass, wie Körper und Seele, auch Nahrung und geistige Einflüsse untrennbar zusammengehörten. Allein - vollkommen war er nicht.
Die Hütte (4)
Das kleine Haus Yüos hatte ein Vordach, das aus der gegerbten Haut eines Yaks bestand. Die Kochstelle war ein paar Schritte nach rechts von der Hütte verlegt, dort wo das Gesträuch einen Halbkreis bildete. In den zwei hinteren Ecken des Wetterschutzes hatten Schwalben ihre Nester gebaut. Später im Jahr, wenn die Vögel ihre Brut und Aufzucht hinter sich hatten und zum großen Meer aufbrachen, würde Yüo die Nistplätze vorsichtig herunternehmen und den ausgewürgten gelben Schleim aus dem Inneren der Nester heraussammeln. Befreit von Kot und Federn, war er eine köstliche Speise. An den vorderen Stangen des Wetterfanges waren Streifen aus rotem Leinen befestigt. Sie flatterten im Wind, spendeten Trost und gaben Sicherheit. Den Wanderern zeigten sie einen Ort des Göttervertrauens an. Dieses tat auch der Gesang der Windharfen. Yüo hatte Bambusröhrchen in verschiedenen Längen eng nebeneinander an die linke Seite des Vordaches gehängt. In der ständigen Brise des Tages schlugen sie gegeneinander und verbreiteten so einen sphärischen, wohltuenden Klang. Manchmal, wenn ein besonderer Windstoß die Hütte erreichte, schnalzte das Vordach seinen eigenen Takt dazu. Im Reich der Mitte aber gab es zwölf Halbtöne innerhalb einer Oktave. Der Grundton war in einer bronzenen Glocke festgelegt, die sich unter Verschluss am kaiserlichen Hof befand. Dort gab es sogar einen Minister für Musik. Über dem Feuer stand das dreibeinige Gestell, an dem abwechselnd der große Topf für die gute Hühnersuppe oder der weit ausgeladene dünnwandige Kessel hing, in dem Gemüse gegart oder Nudeln und Reis gebraten wurden. Solange Yüo hier an den Terrassen nahe der Hochebene verweilte, erlosch die Glut der Kochstelle nie. Nicht einer, den man nach diesem kleinen Mann fragte, konnte sich erinnern, dass der Sohn des Bauern Ku gerade mal nicht gute Hühnersuppe kochte oder sie zur Seite bereitgestellt hatte. Allerdings lud der junge Bauer keinen seiner Gäste zum Essen der Suppe, obwohl es die Gastfreundschaft geboten hätte. Nur wer beständig beim Trinken des Cha auch zur Feuerstelle schielte, konnte womöglich mit einer kleinen Tasse rechnen.
Die Bäume machten nach Norden einer Weide Platz, die mit langhalmigem Steppengras bewachsen war und aus der sich zwei Felsen wie die Panzer von Schildkröten wölbten. Aus einem der Steinblöcke sprudelte eine klare, kalte Wasserquelle. Eingesäumt war die Lichtung von dem dann beginnenden dichten Wald, der rechter Hand bis an den von Yüo kunstvoll gestalteten Steingarten stieß, durch den sich über Kalksteine sprudelnd die Felsquelle ergoss. Der Garten wurde von einer Steinmauer umgeben und Yüo hatte versucht ihn so zu bauen, dass sowohl das Weibliche, als auch das Männliche in ihm zugegen war. Damit das Qi ungehindert in den Garten und auch durch ihn hindurchströmen konnte, musste der Besucher von Süden her den oben gerundeten Torbogen durchschreiten und so das Reich des Friedens betreten, und er konnte ihn ebenso nach Norden hin durch ein solches Tor in Richtung Wald wieder verlassen. Bächlein und Steine bildeten wie Knochen und Adern den menschlichen Körper ab und erinnerten den Sohn des Bauern Ku immer wieder an die Tatsache, dass alles sich verändert und dass das Schwache am Ende doch über das Starke siegt. Hatte nicht der alte Laozi einst darüber dieses gesagt:
Auf dieser Welt ist nichts so weich
und nachgiebig wie das Wasser.
Doch zum Auflösen des Harten und Starren,
ist nichts besser geeignet.
Das Weiche überwindet das Harte;
das Sanfte überwindet das Starre,
jeder weiß, dass dies so stimmt,
aber nur wenige können danach handeln.
Daher – inmitten des Leides
bleiben die Meister gelassen.
Unheil kann nicht in ihr Herz eindringen.
Weil sie das Helfen aufgegeben haben,
sind sie für die Menschen die größte Hilfe.
Die Wahrheit ist ein Widerspruch.
Wegen seines kristallenen Wassers nannte Yüo den kleinen Fluss, Ming Liang. Und so wird er heute noch genannt. Er entsprang nahe der nördlichen Hügeln des Rong Hochlandes und er war kühl. Nur in den Wochen des regnerischen Spätherbstes färbte sich das Gewässer vom abgeschwemmten rotgelben Löss und brachte diesen in die Tiefebene. Im Frühling und Sommer lief Yüo oft barfüßig im kniehohen tiefen Wasser. Mit den nackten Sohlen konnte er so die Steine am Grund des Flüsschens erfühlen. Die besonders glatten Steine wurden vom Gelben Volk Jade genannt und waren sehr kostbar. Gegen Nierenbeschwerden und Blasenleiden waren sie gut. Es konnte mit ihr Ware bezahlt, oder ein herrliches Gefäß hergestellt werden. Wer Jade besaß, dem sollte das Glück begegnen. In ihr war die Kraft des Universums vereint und sie förderte den heilsamen Schlaf. Die schwarze und grüne Jade gab es hier so gut wie nicht. Diese wurde in Flüssen und Bächen vom Qilian-Shan in den Schilfsee gespült. Am Ming Liang wusch Yüo sich, und hier reinigte er seine Kleider. Oft aber warf er das Netz in das Flüsschen und konnte so mit einer überaus köstlichen Mahlzeit rechnen, wenn ihm nicht Graureiher und Eisvogel den Fang wegstahlen, was manchmal geschah.
Ging der Wanderer einen fingerbreit Sonne Richtung Sonnenaufgang am Flüsschen entlang, war es ihm möglich, den roten Ton vorzufinden. Er war gut zu verarbeiten und Yüo hatte aus ihm nicht nur den Ofen in der Hütte hergestellt, sondern auch so manche Schale aus ihm geformt und im Feuer gebrannt.
Verzauberte Herzen (5)
Die Abendsonne gab eine milde Wärme. Yüo war den Fluss hinab Richtung Osten gegangen, um den roten Ton zu holen. Von dort kam er jetzt zurück und stapfte den gewundenen Pfad hinauf zur Hütte. Bekleidet mit einem blauen Schurz und einem naturbelassenen Überwurf trug er zwei Bottiche gefüllt mit Lehm. Die Eimer hingen an einem Joch aus Kirschbaumholz, und sie waren gerade so schwer, wie es die Stärke eines Mannes erlaubte. Aber an diesem Abend sollte alles ganz anders werden als gewöhnlich. An der Stelle angekommen, dort, wo Yüo einst seinen ersten Teestrauch gepflanzt hatte, vernahm er den Gesang eines Vogels, den er zuvor noch nie gehört hatte. Das Zirpen der Grillen und das Schnarren und Schrillen der Zikaden, das Rauschen der Blätter und das Plätschern des kleinen Flusses untermalten seinen unerhört schönen Gesang.
Der junge Mann hielt inne und suchte mit erstaunten Augen die Gegend ab, doch vergebens. Welches Geschöpf nur konnte so makellose und betörende Töne von sich geben? Die Melodie schien ihm eher auf einem himmlischen Instrument gespielt. Der Bauer versuchte genauer hinzuhören, um herauszubekommen, woher die Stimme kam. Dann, einen Moment später, erblickte Yüo den Sänger auf einem Stapel Bambus, der neben der Hütte lag und noch verarbeitet werden musste.
Es wunderte Yüo nicht, dass der Vogel zunächst unsichtbar geblieben war. Hätte dieser nicht kurz mit den Flügeln geschlagen, wäre er im Schutze des Riedstockes auch weiter unentdeckt geblieben. Sein Gefieder war nämlich der Farbe des reifen Bambus sehr ähnlich. Nur der Hals und ein Streifen auf Brust und Bauch waren von leichtem Grün. Der Schnabel aber war schwarz, gleich dem Ruß der Kieferrinde.
Es mochten vielleicht dreißig Schritte bis zu dem Platz sein, wo sich der seltsame Gast niedergelassen hatte. Mit gerecktem Hals sang er mit ganzer Kraft sein Lied gen Himmel, als wolle er die Götter lobpreisen. Yüo bückte sich, um sein schweres Joch abzusetzen. Er wollte den bezaubernden Sänger eingehender betrachten und ihm in Ruhe lauschen. Doch in dem Moment, als die Behälter den Boden berührten, verstummte der Gesang. Kurz hielt der Vogel inne und flog dann am Waldesrand entlang in die untergehende Sonne. Yüo richtete sich auf. Geblendet stand er da und wie in den Boden verwurzelt. Nie zuvor hatte er solch einen schönen Vogel gesehen, nie so ein wundervolles Lied vernommen.
Welch ein Gesang! Es waren nicht nur Laute für das Ohr – es war auch eine Botschaft für das Herz. Es war nicht nur eine Melodie – es war ein Gedicht. Es war nicht nur Musik – es war Gefühl. Einen Moment dauerte es, bis sich der Sohn des Ku gefangen hatte. Er nahm die Last wieder auf und stapfte hinüber zur Hütte.
Später, als er die Hühnersuppe schlürfte, musste Yüo immer wieder an den seltsamen Vogel denken. Der Wohlklang seines Gesanges wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Lange noch, im Schein des Feuers, lauschte er in die herannahende Dunkelheit , wohl wissend, dass es kaum einen Vogel gab, der des Nachts singt. „Komm wieder,“ flüsterte er. „Komm wieder!“
An diesem Abend entschloss sich Yüo, nicht im Schutze des Hauses, sondern bei den wärmenden Steinen der Kochstelle zu schlafen. Und während er noch einen Scheit nachlegte, dachte der junge Bauer darüber nach, warum ihn dies alles so tief berührt hatte.
Welch ein Gesang!
Yüo schlug das Yakfell um sich und bettete seinen Kopf auf dem Reiskissen. „Es gibt keine Zufälle,“ murmelte er und dämmerte dahin. Als der Morgen kam, fiel es ihm nicht leicht zu unterscheiden, was er geträumt und was er wirklich erlebt hatte.
Als drei Tage später, etwa beim Höchststand der Sonne, Chang Tou-fa zu der Hütte seines Freundes kam, war dieser nicht ausfindig zu machen. Wo Chang auch suchte, er fand Yüo nicht. Er schaute die Terrassen hinunter zum Bach, ging ein paar Schritte in den Wald und schlug sogar den Gong, um auf sich aufmerksam zu machen. Weit konnte Yüo aber nicht sein, denn der Kochtopf mit der guten Hühnersuppe dampfte über dem Feuer. Chang nahm nichts von dem würzigen Gericht, sondern setzte sich nach einer Zeit der Höflichkeit auf das alte Weinfass. Dieses stand zwischen Haus und den Ställen im wohltuenden Schatten der alten Kastanie. Er war bereit zu warten. Mit einem Tuch wischte sich Chang den Schweiß von der Stirn und kämmte sein langes Haar mit den Fingern in den Nacken. Dann nahm er einen Schluck aus dem Lederbeutel und ließ den Fächer aus Sandelholz vor seinem Gesicht spielen.
„Welch ein Genuss“, dachte Chang Tou-fa, „nach der langen Wanderung und der Anstrengung der vergangenen Stunden unter den ausgebreiteten Armen des Baumes zu ruhen.“ Während er eine zeitlang so verweilte, ließ sich nicht weit von ihm in dem aufgeschossenen Ginsterbusch ein Vogel nieder. Dies war nichts Ungewöhnliches, denn in der Nähe von Hütten und Stallungen gab es immer ein paar Krumen zu finden. Der Vogel zog die Aufmerksamkeit des müden Wanderers ganz auf sich. Er war ohne Frage von außergewöhnlicher Schönheit. Chang hatte ein solches Geschöpf nie zuvor gesehen. Um das Tier nicht aufzuschrecken, hatte er mit dem Fächeln innegehalten. Aufmerksam und regungslos betrachtete er den Neuankömmling. Dessen Gefieder war tiefgelb und an manchen Stellen wie Bambus braun gesprenkelt. Von der Kehle abwärts bis über den Bauch lief ein schmaler Streifen von zartem Grün. Die Handschwingen des Vogels lagen eng am Körper, und über den flinken Augen lag ein Streifen kaum merklichen Blaus. Mit zurückgebogenem Kopf begann der Vogel, sein Gefieder zu putzen. Welch ein wunderbares Geschöpf! Niau-Zhuzi, Bambusvogel, wäre der treffende Name für ihn. Chang hatte seinen Hunger ganz vergessen – sogar die heimatlichen Sorgen. Er hatte das Gefühl, dass sich der Abstecher nach hier schon jetzt gelohnt habe. So ging es eine Weile.
Chang lief der Schweiß in die Augen. Doch traute er sich nicht, diesen mit der Hand wegzuwischen. Regungslos war sein Körper – nicht aber seine Seele. Welch ein Geschöpf! Welch ein Moment im Bogen der Unendlichkeit!.
Dann musste Chang seine Betrachtung beenden, denn ganz unverhofft unterbrach der Vogel seine Beschäftigung und stieß sich von dem Ginster ab. In Richtung des Baches flog er. Nun bemerkte Chang seinen Freund Yüo, der aus dem Wald getreten war. Auf dem Rücken trug er ein Bündel dünnen, ebenen Holzes. Der Wartende erhob sich von dem Weinfass und ging auf Yüo zu.
„Wo de peng you. Wo hen gaoxing ni ren shi. Ni hao ma? - Mein Freund, schön dich zu sehen. Wie geht es dir?”, sprach zuerst Chang. Yüo aber ließ das Bündel von seiner Schulter gleiten.
„Danke, auch ich freue mich, dich zu sehen, mein Freund. Und natürlich hoffe ich, dass es auch dir gut geht.“
Beide hatten sich voreinander verbeugt.
„Oh ja, es geht mir immer gut, wenn ich zu Gast bei dir sein darf, wo de peng you.“
„Das freut mich zu hören, wo de peng you. Ich hörte den Gong, den du schlugst.“
Wohl waren dem Gast die Worte der Begrüßung vertraut. Aber an der Art und Weise, wie sie heute von Yüo gesprochen wurden, spürte Chang eine gewisse Bedrückung bei seinem Freund. Er hielt es aber für ratsam, darüber zu schweigen. Stattdessen lächelte er.
„Wie lange wartest du schon auf mich?“, fragte Yüo und fuhr fort: „Komm, setz dich mit mir ans Feuer. Wir wollen uns - wenn es dir recht ist - mit einem Mahle stärken und auch gemeinsam den Cha trinken.“
Mit einladender Armbewegung bat der Gastgeber Chang an das Feuer.
„Setz dich doch!“
Zwei grobe Holzklötze dienten den beiden als Schemel. Dann antwortete der Weitgereiste auf die gestellte Frage:
„Seit ich ankam, ist der Schatten etwa einen Finger weit gewandert.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sprach in gesenktem Ton:
„Aber langweilig wurde mir dabei nicht.“
Nun griff Chang in die Kitteltaschen und brachte zur Freude Yüos zwei Jadesteine hervor.
„Da ich weiß, mein Freund, dass grüne und schwarze Jade hier nicht zu finden ist, habe ich sie dir mitgebracht.“
Yüo nickte mit einem breiten Lächeln.
„Xiexie! Ni shi fan le ma? – Vielen Dank! Hast du heute schon etwas gegessen?“
Yüo hatte seinen rechten Arm zum Kessel hin ausgestreckt.
Chang Tou-fa war erstaunt. Diese Höflichkeit war ihm bei seinem Freund so noch nie begegnet. Nicht die Frage war es, denn die gehörte wie der Weihrauch in den Tempel. Es war die Einladung zur dampfenden Suppe! Niemand in der Provinz Qinghai konnte sie so gut kochen wie der Sohn des Ku. Immer hatte Chang mit seinen Augen um eine Schale Hühnersuppe betteln müssen und beileibe nicht immer war er damit erfolgreich gewesen. Später, als sie beim süßen Tee saßen, erzählte Chang seinem Freund von dem schönen Vogel, der ihm im Schatten der Kastanie Gesellschaft geleistet habe.
„Er war da?“
Erstaunt schaute der Sohn des Ku auf.
„Wie ... du hast ihn auch schon gesehen?“
„Ja, dieser Vogel hat es mir angetan und seit drei Tagen warte ich auf ihn.“
Nun sprudelte es aus Yüo heraus. Er berichtete seinem Freund von der Anmut des Vogels und wie vor allem sein Lied ihn so tief berührt hatte. Chang lauschte aufmerksam. Mal nickte er beifällig, mal zog er die Augenbrauen nach oben, mal runzelte er die Stirn, mal schien er abwesend. Als sie die Pfeife rauchten und während Chang in der Glut der Kochstelle stocherte, sprach er:
„Wenn dir so an dieser Kreatur liegt, rate ich dir, ein Netz zu flechten, es dort beim Ginsterbusch auszulegen und ...“
Barsch unterbrach ihn Yüo:
„Er könnte dabei verletzt werden.“
Er zog an der Pfeife, legte den Kopf zurück und blies den Rauch gen Himmel.
„Und du weißt ja, dass die Alten gesagt haben, es sei besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen ...“
„... damit alles zur freien Entfaltung kommt“, ergänzte ihn Chang und meinte weiter ausholend:
„Wu-Wei, nichts tun und doch alles erreichen. Den Dingen ihren Lauf lassen, ohne ihnen etwas entgegenzusetzen, sie nur in Augenschein nehmen, ohne zu urteilen. Nicht gestern, nicht morgen, nur heute. Ja, mein Freund, Recht hast du.“
Sie saßen noch lange zusammen. Sie redeten und schwiegen, tranken von dem Tee und ließen ihre Gaumen von Tabak und Wein verwöhnen - die Seele aber von alten Geschichten und Mutmaßungen über dieses und jenes. Sie verstummten erst, als der Mond seine Bahn vollendet hatte und von dem Feuer nur noch eine blasse Glut geblieben war.
Später am Morgen, nach einem Bad im Fluss und gestärkt durch eine Mahlzeit, machte Chang sich zu seiner Weiterreise nach Golmud auf. Dort wollte er einige nützliche Werkzeuge erstehen und das nahegelegene Kloster aufsuchen.
„Du möchtest also etwas von den Göttern erbeten?“, fragte Yüo seinen Freund.
„Oh ja, das will ich wohl“, sprach dieser und sein Blick verlor sich in der Ferne.
„Dann entzünde bitte auch für mich eine Butterkerze. Den vielen Göttern von Zhong Guo sei jetzt schon gedankt. Denn wir haben ihrer so viele wie unsere Sorgen sind. Du wirst schon Gehör finden, denn dafür sind die Götter da.“
Sie hatten sich zum Abschied umarmt.
„Ich werde es tun.“
„Was?“
„Na, eine Kerze für dich entzünden.“
„Ach so, natürlich. Danke mein Freund.“
„Dafür nicht.“
Fragen (6)
Nachdem der Freund gegangen war, hatte sich auch Yüo am Bach erfrischt. Anschließend suchte er in der Hütte nach der Dizi, der Bambusflöte, die ihm einst die jüngere Schwester Mei zum Abschied geschenkt hatte. Yüo fand sie schließlich in dem Bord über der Reismatte. Er setzte sich an das Feuer und versuchte das Lied des Vogels nachzuspielen. Dies aber erwies sich als sehr schwierig, denn die Melodie des Vogels war unerhört schön gewesen. Dennoch gab Yüo nicht auf, sondern er spielte, so gut er es in diesem Moment konnte. Die vom Odem des Menschen erzeugten Töne können Harmonie unter allen lebenden Wesen herstellen. Vor allem Yüo selbst benötigte diese für sich zuerst. Immer wieder setzte er das Instrument ab, um zu überlegen, was zu tun sei und was das wohl alles zu bedeuten habe. Sollte er eines der Orakel befragen und wenn ja, welches? Den Schulterknochen im Feuer? Die fünfzig Stängel der Schafgarbe? Sollte er die Münzen werfen?
Viele Fragen waren es, die ihm durch den Kopf gingen und die sein Herz noch mehr in Unruhe versetzten. Verwirrt und friedlos beschloss er deshalb, den Rest des Tages beim grünen Hain zu verbringen und also nach dort zu wandern. Es war der Ort, den er für diesen Moment als den besseren empfand. Denn da, wo eigentlich Klarheit sein sollte, war sein innerer Blick getrübt. Das Wäldchen jedoch war eine heilige Stätte und ein Platz, der zur unverdunkelten Einsicht verhelfen konnte. Yüo stand also auf und begab sich in die Hütte. Die Flöte legte er zurück an ihren Platz. Er wand sein schwarzes Haar zu einem Knoten, umwickelte es mit einem Band aus Seide und befestigte es mit einem Haarpfeil. Die Nadel war aus Elfenbein geschnitzt und einem Bambus nachgebildet. An ihrer Spitze befand sich eine Platte, in der zwei mattgrüne Türkise eingelassen waren. Die Haarnadel war ein Geschenk der Mutter an ihren Zweitgeborenen. Die übrigen Strähnen kämmte der junge Mann hinter die Schläfen. Er zog sein dunkelblaues Gewand an und schnürte den breiten, roten Gürtel um seine Hüften. Links und rechts hingen die nötigen Gebrauchsgegenstände, eine Ahle rechts und ein Messer auf der anderen Seite, sowie auch der Hohlspiegel aus blank poliertem Messing. Dann umwickelte Yüo die Beine bis zum Knie und schnürte die Schuhbänder. Zuletzt setzte er seinen Hut aus weißem Leinen auf, wobei er die olivfarbenen Schnüre unter dem Kinn zusammenknotete.
Yüo nahm noch ein paar Samen der Südlanddattel an sich. Er würde sie unterwegs kauen und sicher bald ihre beruhigende Wirkung spüren. Er trat aus der Hütte, legte noch Holz ins Feuer und steckte ein paar Wurzeln in den Gürtel. Er griff zu dem kleinen Wasserbeutel, den er einst aus Ziegenhaut gefertigt hatte, füllte diesen im Garten und warf kurz einen Blick zum Ginsterbusch. Für den Fall, dass ein Wanderer in seiner Abwesenheit in die Hütte trat, hatte er etwas Pemmikan und einen Krug mit kühlem Wasser auf dem Tisch gelassen. Yüo trat zur Hütte und legte den Türriegel so, dass auch jeder Fremdling seine Abwesenheit erkennen musste und trotzdem zum vertrauensvollen Eintritt geladen war. Doch kaum war Yüo am Saum des Waldes angelangt, kamen ihm Zweifel, ob der Riegel wirklich so gelegt war, wie es sein sollte. Also kehrte er um und überprüfte die Tür seiner Hütte. So ging es ein paar mal. Manchmal hatte er diese Anwandlungen und erst nach ein paar Wiederholungen kam er zur Ruhe.
Beim Hain der Träume (7)
Wenn der Wanderer nördlich aus dem Waldgürtel heraus trat, dann erstreckte sich vor ihm eine weite Ebene. Hier wuchs das Achillenkraut. Die vielen weißen Blüten dieser Bitterpflanze bildeten tellergroße Dolden und sie reichten dem Yüo bis an den Bauch. Er würde auf dem Rückweg davon einige Büschel ernten, um später aus den pflaumigen und samtenen Blättern erfrischende Fußsalbe herzustellen. Die Stängel würde er zu Hause säubern, waschen und zurechtschneiden, so dass sie alle die Länge eines Unterarmes erhielten. Nachdem sie dann einige Tage auf einem sonnigen Platz ausgelegt worden wären, könnte er sie mit Hanf zu einem Bündel zusammenschnüren und für spätere Zwecke unter dem Dachvorsprung seiner Hütte aufbewahren. Doch es gab auch noch andere Interessierte an diesem Gras. Es waren die wilden Steppenschafe, die sich an diesen Stängeln und ihren Blättern genüsslich taten. Manchmal standen sie in Gruppen zusammen, manchmal grasten sie zerstreut. Immer wieder waren Eidechsen und Geckos auf dem Pfad zu sehen, die in der Sonne verharrten, um dann flink vor dem Herannahenden in den Schutz der Pflanzen zu fliehen. Yüo schaute den Faltern nach, lauschte auf das Summen der Insekten und strich mit den Handflächen über das Langhalmgras und die übrigen Gewächse am Wegesrand. In jedem dieser Halme, in jeder Blume und in jedem noch so kleinen Käfer, in jedem Blatt und in jedem Stein kam für ihn das gesamte Universum zum Ausdruck. Alles hat seine Bedeutung und war Mittelpunkt des Seienden. Würde er nur einen Halm oder eine Blume pflücken, einen Käfer oder einen Stein auf seine Handfläche legen, so hielte er den gesamten Kosmos in seinen Händen.
Der Sohn des einfachen Bauern Ku machte sich nichts aus den verführerischen und üppigen Blumengestecken, wie sie in den hohen Häusern hin und her geschenkt oder in die Haare feiner Damen gesteckt wurden. Ihm waren unscheinbare Gräser, die niemanden außer dem äsenden Wild interessierten und schlichte Feldblumen, deren Namen kaum jemand kannte, lieber als gezüchtete Orchideen, violette Tulpen, feuerrote Rosen, betörende Lilien oder leuchtende Narzissen. Einmal kreuzte eine der seltenen Schildkröten seinen Weg und nicht weit von ihm entfernt, querte eine kleine Herde schwarzer Yaks die Steppe. Als diese den Wanderer aber bemerkten, stoben sie mit aufgeblähten Nüstern vorwärts. Dabei machten die Yaks Geräusche wie Schweine, weshalb Yüo ihnen auch spaßeshalber den Namen Grunzochsen gegeben hatte. Noch heute werden sie so genannt. Auch Kulane mit ihrem gelbgrauen Fell waren hier und dort in Dreier- oder Vierergruppen zu sehen. Wenn sie vor dem Wanderer flüchteten, stellten sie ihren kurzen Schwanz waagerecht.
Yüo kaute unterwegs ein paar von den mitgenommenen Samen. Doch nur langsam kam die Seele zur Ruhe, klärten sich die Sinne, wurde der Körper, wurde die Seele frei von Verspannungen. Erzwingen konnte Yüo nichts, er musste mit dem Strich gehen, mit dem Stoß rollen, mit der Strömung schwimmen, das Segel nach dem Wind richten und die Gezeiten nutzen – sich erniedrigen, um zu erobern. Das Tao ist nichts, und doch entsteht aus ihm alles. Es ist vom Denken nicht erreichbar und doch kann es vom Leben vollführt werden. Nichtstun und doch dabei nicht träge sein. Nichthandeln und doch dabei nicht lässig sein. Entscheidungen treffen - doch nicht gegen seine Herzensüberzeugungen. Das Tao ist der Schritt zu sich selbst. Yüo war wie ein Stein, der einen Abhang hinab rollte und von dem niemand wusste, wo genau er liegenbleiben und welche seiner Seiten dann nach oben zeigen würde. Er musste den Göttern und Ahnen vertrauen. Es war nicht einfach, an das Licht zu glauben, wenn Dunkelheit herrscht. Es war schwer, sich den Sommer mit seiner Pracht vorzustellen, wenn der Winter alles erstarren ließ. Aber war nicht die Nacht der Bote des Tages?
Der junge Bauer sprach auch mit den Pflanzen und den Lebewesen um ihn herum. Er dankte den Schmetterlingen und Bienen für ihre Lebensfreude und Mühe, er lobte die Vögel für ihren Gesang und gab seiner Sehnsucht nach ihrer Freiheit und Grenzenlosigkeit in Worten Ausdruck. Er wandte sich an die Kräuter und Gräser mit liebevollem Geflüster und rief den wilden Rosen seinen Gruß zu. Dem Wind, der sein Gesicht strich, bekundete er seine Freundschaft und verband sich in Anerkennung mit dem Wasser des Rinnsals, das er überschritt. Dann wieder blieb er stehen, wandte sich der karmesinroten Sonne zu und streckte ihr mit einem Lobpreis für ihre unermüdliche Kraft des Lebens seine Arme entgegen. So erreichte Yüo das Wäldchen. Im Unterholz wuchsen Flechten, Moos und Pilze und es gab Büsche, an denen wohlschmeckende Beeren hingen. In der Mitte des Hains lag ein kleines Gewässer, an dem grüngelbe Binsen wuchsen. Der Wanderer legte ab, was ihn beschwerte, befreite sich von dem Gürtel seines Gewandes und ließ sich am Rande des Rieds nieder. Als Yüo da so entspannt saß, nickte er für kurze Zeit im Halbdunkel der dichten Baumgruppe ein.
Es träumte ihn, er würde auf dem Rückweg zu seiner Hütte sein und er könnte mit einem Male fliegen wie die Störche. Er sähe, wie von einem hohen Berg, die Achillen und das Langhalmgras weit unter sich und nahm einen Wanderer wahr, der Chang Tou-fa ähnlich sah. Dessen Gewand und dessen Haare wehten in der Eile seiner Schritte. Vor ihm selbst flog der wundervolle Vogel und Yüo wollte ihn ereilen. Doch je mehr er sich bemühte, desto weniger gehorchten ihm die Flügel. Chang aber streckte im Lauf seine Hände gen Himmel. Gerade wollte Yüo den Namen seines Freundes rufen und ihm für die entzündete Butterlampe und den Weihrauch danken, als der flüchtige Schlaf, so schnell wie er auch gekommen, beendet war. Der Erwachte wusch sich Arme und Gesicht und richtete seinen Oberkörper zur Meditation auf. Er musste über diesen Traum nachsinnen. So war es seine Pflicht und Gewohnheit - und schon gar nicht an diesem heiligen Orte konnte er einen solchen Traum abtun. Solange er aber auch nachsann – einen Hinweis für die Bedeutung des Traumes in seinem Leben konnte er nicht erkennen. So schloss er seine geistliche Übung flüsternd mit den Worten der Alten:
„Der Wissende redet nicht – der Redende weiß nicht“.
Yüo stand auf, kleidete sich wieder und wollte recht bald seine Heimreise antreten. Er trank aber vorher noch von dem vortrefflichen Wasser, füllte damit seinen Beutel und nahm den Rest der verbliebenen Dattelsamen zu sich. Unterwegs schnitt Yüo das Achillenkraut, las ein wenig wilde Hirse, Wachholder, Preiselbeeren und Nelken vom Rande des Pfades und füllte damit die Taschen seines Gewandes.
Halm im Wind (8)
Die Sonne war bereits untergegangen, als Yüo zurück zur Hütte kam. Er wechselte die widerstandsfähige Kleidung mit den leichten Gewändern und blieb, nachdem er ein wenig von der kräftigen Hühnersuppe und von dem grünen Cha zu sich genommen hatte, in der Hütte. Die Habe auf dem kleinen Tisch aus Birkenholz war nicht angerührt worden und er schob es zur Seite, um Platz für das nun Kommende zu machen. Beim Schein des Lampions nahm Yüo den kleinen schwarzen Quader vom Bord und ebenso nahm er die Schieferziegel und stellte beides rechter Hand auf den niedrigen Tisch. Noch zwei Kissen legte er auf die Reismatte, damit er erhöht sitzend später den Pinsel besser führen konnte. Den Tuscheblock hatte er im vergangenen Herbst aus der Asche der Kiefer und aus Knochenleim hergestellt und mischte daraus nun die zum Schreiben notwendige Tinte. Dazu ließ er ein wenig von dem noch warmen Teewasser auf den Schiefer tropfen und begann, den schwarzen Quader auf dem feuchten Untergrund im Kreise zu schleifen. Immer und immer wieder drehte sich seine Rechte, bis die Tinte von dem gewünschten Schwarz war. Yüo hatte beschlossen, die Unwissenheit um den Traum im Hag, seine Gefühle und Sehnsüchte, die leichte Verwirrung und die leise Hoffnung auf dem Pergament festzuhalten. So griff Yüo also nach der Rolle auf dem Bord und schnitt mit dem Messer sorgfältig einen Bogen heraus. Dieses Blatt legte er vor sich auf den Tisch und glättete es mit der linken Hand. Er entschied sich für den Bambuspinsel mit den Borsten aus Ziegenhaar, nahm ihn fest mit dem Daumen und den beiden ersten Fingern in der Mitte und tauchte den Pinsel zunächst in den Becher klaren und kalten Wassers. Dann strich er das überflüssige Nass ab und tauchte ihn vorsichtig in die tiefschwarze Tusche. Mit sanften, aber auch kraftvollen Strichen begann er zu schreiben. Es war zu bedenken, den Borstenstiel weder zu hastig zu führen, noch mit ihm inne zu halten. Denn wie die Gebilde am Himmel gleichmäßig schnell oder langsam dahin ziehen, ohne jemals auch anzuhalten, wie die Wasser des Flusses, die nicht stillstehen, Felsen und harten Boden umgehen, um sich ihren ureigensten Weg zu bahnen, so musste es beim Schreiben sein. Und wie bei einem Schiff, dessen Segel im Fließen des Windes prall gefüllt sind, um den Reisenden zu neuen Ufern zu führen, an jene Gestade, die am Beginn der Reise womöglich noch nicht bekannt sind, so steht beim ersten Wort das letzte noch nicht fest.
Wer dem Atem der Natur folgt, hört auch die Stimme seines Herzens.
Es ging dem jungen Mann nicht nur um die Worte – er wollte gleichzeitig auch seine Gefühle und Empfindungen auf dem Pergament festhalten. War es nicht wunderbar, mit Pinsel und Hand etwas Unvergängliches zu schaffen! Wie die Alten schon sagten: Die Hand führt aus, was das Herz will. Daher war das Schreiben auch ein Malen und der Betrachter hätte, ohne die Sprache zu kennen, fast erraten können, was geschrieben wurde und wie es um den Seelenzustand Yüos stand. Das Blatt war wie das Feld einer bevorstehenden Schlacht und der Pinsel wie Lanze und Schwert. Sobald der Schreiber, der Dichter oder Komponist diesen in die Hand nahm, entschied sich das Schicksal wie bei einem Gefecht. Die Linien, Kurven, Tupfer, Häkchen und Schnörkel, die das Tanzen des Pinsels hinterließ, konnten das unhörbare Gespräch mit den Göttern, ja, ein Schöpfungsakt sein. So führte Yüo sein Schreibwerkzeug zu Worten von Kopf und Herz, gemeinsam geschaffen. Auch in dieser Nacht, in dieser einsamen Gegend, fanden neue Schriftzeichen Eingang in die Sprache des Reiches. Zu diesem besonderen Anlass stand auf dem Tisch neben dem Krug und dem zur Seite geschobenen Yakfett auch ein Becher aus Ton, in dem sich gekühlter Wein befand. Ab und zu griff der Schreiber mit der Linken zu dem Becher und führte ihn zum Mund, ohne aber seine Augen dabei von dem Pergament abzuwenden und das Schwert der stillen Worte, die in Herzblut getauchte Lanze, hielt dabei nicht still. Dieses hatte der Sohn des Ku in dieser Nacht geschrieben, gemalt und erfochten:
Ich weiß nicht, wo ich steh’ - wohin mein Weg mich führt,
das Ziel hab’ ich verloren - ich kenn’ mich nicht mehr aus.
Oh, ich bin ein Halm - im Wind meiner Gefühle.
Gestern noch ein Kind des Lichts, - und heute bin ich nichts.
Ich bin schon viel zu lang - allein in meiner Welt,
tagaus, tagein der Rhythmus - meiner Einsamkeit.
Wäre doch am Horizont - ein neuer Stern,
dann würd’ ich nach der Nacht – vielleicht den Morgen sehn.
Ich weiß nicht, wo ich steh’ - wohin mein Herz mich führt,
das Ziel hab ich verloren, - ich kenn’ mich nicht mehr aus.
Oh, wenn doch die Sehnsucht stirbt, - ja, dann lebe ich,
ich glaube an die gute Macht, - die Macht, die mich beschützt.
Nach getaner Arbeit betrachtete der junge Mann noch einmal sein Werk und las Zeichen für Zeichen laut vor sich her. Manches traf seine Gefühlslage, manches schien ein wenig sehr dunkel, ohne Glauben an Besserung und schlechter hingestellt, als es in der Wirklichkeit war. Dies war für Yüo bezeichnend. Der spärlich erleuchtete Raum war erfüllt vom Duft der abgebrannten Riechhölzer. An seiner Südseite, gleich neben dem Eingang, hing über dem kleinen Altar für die Verehrung der Ahnen, die viersaitige Yueqin. Sie hatte einen mondförmigen Klangkörper aus Platanenholz. Yüo nahm das Instrument und zupfte bedächtig seine Saiten. Die anfangs etwas wehmütige und später heiter werdende Melodie schwebte auf den Vorplatz der Hütte und wurde vom Wind hinaus an den Bach getragen. Der Mann saß noch lange im beruhigenden Licht des Lampions.
Über seinen Oberkörper hatte er ein eierschalenweißes Gewand geworfen, das aber die linke Schulter und die muskulösen Arme freiließ. Die Robe reichte bis zu den Knien und seine Borte hatte das tiefe Grün der Wiesen im Frühsommer. Als Gürtel diente ein aus Hanf dreifach geflochtenes, erdfarbenes Seil. Auch die Unterbeine und die Füße waren nackt. Das runde Gesicht mit den tiefliegenden und wachen Augen, den auffälligen Backenknochen und den sinnlichen Lippen war mit einem spärlichen Kinnbart ausgestattet. Die auffällig zum Mund hinunter gebogene und etwas schiefe Nase teilte sein Gesicht in zwei ungleiche Hälften. Es hätte schöner und harmonischer sein können, wenn nicht die Narben auf der rechten Wange und über dem rechten Auge gewesen wären. Zwar waren sie im Laufe der Jahre verwachsen, aber doch noch zu sehen. Schöne und glatte Gesichter gab es in Zhong Guo genug. Schmisse in männlichen Antlitzen machten diese für die Weiblichkeit interessant. Doch das war Yüo bisher nicht bewusst. Die lieblichen und eng am Kopf liegenden Ohren waren durch das offene halblange, dunkle Haar zum Teil bedeckt. Um den Hals lag eine Kette, an der türkise Jade und Bernsteine aufgereiht waren. Sie strahlten Ruhe aus. Die kleinen Hände waren – obwohl von der körperlichen Arbeit erprobt – mit feingliedrigen, feinfühligen Fingern ausgestattet. Der Körper war leicht über den niedrigen Tisch gebeugt. Gegen Mitternacht nahm Yüo den Ruhesitz ein und zählte seine Atemzüge. Wenig später legte er sich befreit auf seine Reismatte und schlief sofort ein.
Prägung (9)
Es verstrichen die Wochen. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und der Herbst zog in das Land und schon nahten mit leisen Schritten Vorboten des Winters. Es war die Zeit der Mogus. Yüo sammelte viele davon, um sie für die kommende Zeit zu trocknen. Von Norden zogen Kraniche, Störche und Rotgänse in gewaltigen Schwärmen gleich Keilen in Richtung des Südmeeres. Jetzt mussten auch Weißkohl, Gurken und Lauch geerntet und dann gut gelagert werden. Die Luft war erfüllt von Harz. Wachteln mit scharf gewürztem Reis waren in dieser Zeit eine willkommene Bereicherung der Speisekarte. Bald würden die grauen, nassen Tage kommen – Boten des Wirbelsturms Taifeng. In der Hütte brannte schon das Herdfeuer und legte eine angenehme Wärme in den Raum. Auf den schönen Vogel wartete Yüo zu dieser Zeit vergeblich. Des Abends saß er oft noch lange allein draußen am Feuer und stampfte das getrocknete Achillenkraut in einem Gefäß zu feinem Pulver. So hatte es ihm die Mutter einst gezeigt. In den mondlosen Nächten konnte er besonders gut die Himmelsgestirne beobachten. Es war der Zeitpunkt, den Ahnen zu opfern. Dies war für Yüo Pflicht und Ausdruck von Ehrfurcht. Die Geschichte seiner Familie zu kennen und ihre Traditionen zu pflegen, waren bedeutsame Voraussetzungen, um auf dem richtigen Weg zu bleiben. Yüo hielt sich das Lächeln auf dem mit Falten übersäten Gesicht seines Großvaters vor Augen und vergegenwärtigte sich die hohe und zittrige Stimme der Großmutter. Er sah die Wohnung seiner Vorfahren und er dachte an das, worüber sie sich einst gefreut hatten und was sie gerne aßen.
Doch Yüo dachte auch an seinen Vater und an seine Ma. Sie war es gewesen, die ihn – als die Zeit gekommen war – aufforderte, die Familie zu verlassen, um endlich das Leben selbst zu gestalten und dem eigenen Tao zu folgen. Die Ma machte ihm deutlich, dass die Zeit, den weißen Reis zu essen, nun endgültig vorbei sei. Sehr gerne wäre Yüo im Schutze seiner Familie geblieben, doch das Gesetz gebot ihm zu gehen, auch wenn es ihm nicht gefiel. Es galt, was seit dem Leben des großen Meisters Kong feststand: die Pflicht der Kinder gegenüber den Eltern. Yüo liebte seine Ma und doch blieb Bitterkeit in seiner Seele. Denn die Mutter hatte bei ihm, wegen ihrer eigenen Ängste, ein Gefühl von Schuld hinterlassen. Als die Ma ihn, das ersehnte zweite Kind unter ihrem Herzen getragen hatte, wurde sie von schweren, aber unerklärlichen Ängsten geplagt. Sie meinte, sie müsste sterben, oder in das Freie hinaus flüchten. Sie litt unter Atemnot und ihre Seele verdunkelte sich für Tage. Oft hatte Yüo gemeint, er sei für die Ängste der Mutter verantwortlich. Weil er bei ihr unter dem Herzen war, habe sie um seinetwillen die Ängste gehabt. Aber war es nicht umgekehrt? Yüo liebte seine Mutter sehr, denn sie hatte ihm auch viel Wärme gegeben und ihn in die Kraft der Musik eingeweiht. So nahm er damals, als er von zu Hause fortzog, neben seinem Hab und Gut auch die Ahnentäfelchen mit sich. Es war vollkommen richtig gewesen, ihm, dem Kind der Sorgen, den Weg mit Nachdruck zu weisen. Yüo benötigte eigentlich immer jemanden, der ihm einen Stoß in den Rücken gab, damit er das tat, was zu tun war. Die Familie des Ku gehörte zu der Klasse der Bauern. Doch wie die Eltern und Geschwister, so fühlte sich auch Yüo zu den Gelehrten hingezogen. Die Ma erschuf wunderbare Bilder auf Leinen und auf Seide, und sie überzog ihre eigenen Keramikarbeiten kunstvoll mit Lack. Oft, wenn sie am Herd stand, Reis und Nudeln garte oder eine Fleischsuppe kochte, sang sie mit dem kleinen Yüo Lieder über den Frühling und Winter, weshalb er bis in das Alter besonders diese Jahreszeiten liebte. Der Vater war an dieser Stelle ohne Begabung. Doch dafür konnte er, neben dem fleißigen und aufopfernden Anbau von Hirse, Reis und Wein, abenteuerliche Geschichten erzählen. Solche, die er selbst erlebt und solche, die er sich ausgedacht hatte. Yüo vergaß diese Erzählungen sein Leben lang nicht und auch sie regten seine Phantasie sehr an. So war in dem jungen Bauern viel an Gestaltungskraft verborgen und sie war nicht einseitig, sondern in seinem Leben auf vielen Gebieten wieder zu finden. Keine von ihnen ragte weit über alle anderen hinaus. Es war, als hätte jemand eine unsichtbare Grenze gezogen.
Nie war der Sohn des Bauern Ku darum verlegen, etwas zu erfinden, zu gestalten oder auch wieder instand zu setzen. Aber war dies nicht auch genug? War das Leben nicht schön! War es nicht ausreichend, jeden Tag genießen zu können! Obwohl der junge Mann aus Qamdo wusste, dass die Toren von den Wissenden betrogen werden.
Nicht für tausend Saphire (10)
Am Morgen des sechsten Tages nach dem Herbstmond, aber wurde Yüo vom Gesang seines ersehnten Vogels geweckt. Erst ganz leise und unwirklich hörte er die kostbare Stimme. Doch dann war sie ganz nah und war sie ganz wirklich. Yüo schlug die grobe Schlafdecke zurück und ging sehr vorsichtig nach draußen. Der Bambusvogel saß dort, wo ihn der junge Bauer das erste Mal gesehen hatte. Noch unter dem Vordach der Hütte kniete Yüo vorsichtig nieder, hielt die offenen Hände nach oben und flüsterte kaum hörbar: „Oh du höchstes Wesen, du treibende Kraft, du göttliches Licht und letzte Wahrheit - ich danke dir für diesen Tag.“ Mit einem Male waren alle Zweifel, war aller Zwiespalt, war alle Zerrissenheit, waren Kummer und Seelenlast von ihm gewichen.
Ja, es gab sie noch, die Götter, die Ahnen, das Schicksal, es gab ihn noch, den Ort, wo die Sehnsucht mitempfunden wurde.
Die ersten Sonnenstrahlen spielten mit dem Staub vor der Wand aus Schilfrohr. Fast so wirbelten Yüos Gedanken, wogten und fluteten seine Gefühle, umspülte ihn Wärme. Er war da, einfach so – der langersehnte Vogel. Diesmal, so hoffte und betete Yüo, sollte es anders sein, diesmal sollte der Vogel bleiben, auch wenn er aufstünde und zur Feuerstelle ginge. Und genauso geschah es. Als Yüo aufstand und sich zum Feuer hinüber begab, blieb der Niau-Zhuzi und sang sein Lied weiter. Ja, er war es. Das Gefieder, mit den Färbungen von Kehle und Brust, sein tiefdunkler Schnabel, seine Anmut und die wunderschöne Melodie betrogen ihn nicht. Es war kein Traum.
Die Zeit schien nun dahinzufliegen. Zeit, was ist Zeit? War der Mensch bedrückt und voller Sorgen, schien sie fast stillzustehen. In Momenten der Seligkeit aber zerrann sie wie in einer zerbrochenen Sanduhr. Gerade so war es, wie man es nicht wollte. Umgekehrt sollte es sein! „Ich müsste die Zeit anhalten können“, dachte der Mann bei sich. Zeit lag hinter dem Menschen, in all dem, was sich ereignet hatte. Zeit lag vor dem Menschen, in all dem, was noch kommen würde. Doch der Augenblick war flüchtig wie ein Fisch, der im Fluss vorbeischwamm und für immer entglitten war - er war hauchdünn wie ein Bogen Pergament. Seit diesem Tag ließ sich der Sänger allmorgendlich neben der Hütte nieder, und bald begleitete er Yüo hinunter zum Bach und gelegentlich sah er ihm auch bei der Arbeit an den Trassen zu. Seine Gesänge beflügelten den Zuhörer, ließen ihn tagträumen und immer öfter zum Blasinstrument greifen, wenn er nach dem Tagewerk beim Schein der Papierlaterne Entspannung suchte. Es gelang auch immer besser, die Tonfolgen auf der Dizi nachzuspielen und mehr und mehr wurden sie mild und zart, mehr und mehr kamen sich Mensch und Vogel, kamen sich Himmel und Erde näher.
Nun waren auch Schwalben, Lerchen und Stare in die Tiefebene gezogen und die Blutfasane suchten die Nähe der Menschen. Der Ostwind trieb dunkle Wolken ins Land und endgültig waren es nun die Tage des weißen Tigers. Doch noch war es trocken. Der erste Baum, der zu dieser Zeit sein Gewand abwarf, war Wutong, die Trauerpappel. Ihre Blätter waren breit und gezähnt. Es war aber auch die Zeit der Süßkartoffeln, die der guten Hühnersuppe den Herbstgeschmack gaben und es war die Zeit der dritten Ernte, die den Tee zum beruhigenden Getränk machte. Der Bambusvogel aber blieb bei der Hütte und sang sein Lied in den Herbst hinein.
An einem jener Vorwintertage verlegte Yüo das Kochen in das Innere des Hauses. Das Feuer im Freien brannte jedoch weiter. Das kleine Haus hatte nur einen Raum. Der Ofen war aus dem roten Ton gebaut und befand sich in der Ecke, die nach Süden und ein wenig nach Osten zeigt. In dieser Jahreszeit und der ihr folgenden erlosch die Glut dieser Feuerstelle nie. Und selbst wenn dies später geschehen sollte, wie es dann in den Sommermonaten der Fall war, so blieben doch die Götter bei dem erkalteten Ofen wohnen. Neben dem Feuer stand ein Becken voll mit Kraft spendendem Wasser. Der Geruch des Birkenholzes, die immer dampfende Suppe und der Rauch der glimmenden Riechhölzer vermischten sich zum sicheren Gefühl von Schutz und Geborgenheit. Denn wer jetzt die Hütte als Gast betrat, wusste, dass die Kälte mit großen Schritten nahte und auch nicht mehr aufzuhalten war. Die Unterkunft hatte nur ein Fenster, das gleich neben dem Eingang lag. Beide Öffnungen der Hütte waren gen Mittag ausgerichtet. So war Yüos Heimstatt im Frühling und Herbst vor den feuchten östlichen Winden des Gelben Meeres und im Winter vor den kalten Stürmen aus dem Nordgebirge geschützt. An der Wolkenbildung erkannte Yüo, dass dies heute die vorerst letzten trockenen Stunden sein würden. Er pflückte die schrumpelig gewordenen süßen Trauben von den Reben und kostete dabei ab und zu eine von ihnen. In der roten Abendsonne ließ Yüo die dichten Schilfmatten zur Wetterseite hinunter und lockte das Federvieh in den Stall. Dabei musste er noch einmal an das denken, was am Vortage geschehen war.
Da war der Händler Mai zu ihm gekommen. Beide hatten beim regen Tausch einen abwechslungsreichen Zeitvertreib gehabt. Der Reisende bot ihm wie immer seine Waren an: Geräucherte Bärentatze, gedörrtes Schildkrötenfleisch, Mandeln und Walnüsse, Chili und Pfeffer, in Heilkräutern gegarte Entenfüße, Pemmikan, gebratenen Lotos und polierten Reis. Mai hatte auch Schlangenhäute, Edelsteine, Porzellanerde und Kupfer dabei. Keiner von beiden wollte beim Handel das Gesicht verlieren und keiner von ihnen war darauf bedacht, den anderen zu übervorteilen. Geben und Nehmen, Austeilen und Empfangen, Gewähren und Entrichten sollten sich in jeder Lage die Waage halten. Keiner von ihnen wollte als Benachteiligter erscheinen, jeder von ihnen wollte das Gefühl haben, beschenkt und bereichert worden zu sein. Besonders der Tausch der von Yüo so heiß begehrten Bärentatze gestaltete sich als schwierig. Und als sie sich nicht einig werden wollten, meinte Yüo:
„Schau, mein Freund, was ich hier habe.“
Er zog den kleinen Lederbeutel hervor. Dieser enthielt Samen des Maulbeerbaumes.
„Es sind wohl ein halbes Jin und ich habe sie den ganzen Sommer über gesammelt.“
Mai wiegte seinen Kopf hin und her.
„Ich gebe dir die Entenfüße dafür und einen Pinsel aus Affenhaar.“
„Aber bedenke doch, wie widerstandsfähig die Maulbeerbäume aus diesen Samen werden und wie nahrhaft deren Blätter sind“, wendete der Sohn des Ku ein und meinte weiter:
„Wenn du die Blätter zerhackst und die Larven des Seidenspinners damit ernährst, werden sie zu ansehnlichen und einträglichen Raupen. Ihre Seide wird von bester Qualität sein. Im südlichen Blütenland gibt es dergleichen nicht.“
„Du brauchst mich nicht darüber zu belehren, wo de peng you“, meinte der Händler ein wenig schnippig. Dabei schaute er an Yüo vorbei und meinte wie nebenbei:
„Wenn du mir diesen Vogel dort fängst, gebe ich dir zwei Bärentatzen und einen Saphir.“ Yüo schaute sich um und sah den Bambusvogel bei einem Teestrauch sitzen.
„Nein – niemals. Nicht für hundert Bärentatzen und nicht für tausend Saphire. Er ist mir sehr lieb geworden und mein ständiger Begleiter.“ Ihre Blicke trafen sich wieder und mit ernster Miene meinte der Händler: „Dann passe sehr gut auf ihn auf. Ich bin in Zhong Guo sehr viel herumgekommen. Ich war nicht nur im Blütenland, ich war auch in den nördlichen Provinzen, bis hinauf zu den Wüsten, ich war in Xizang und bin an das große Meer bis zu der berühmten Stadt über dem Wasser Shang-Hai gekommen, und ich bin durch das Tarimbecken gezogen. Aber nie habe ich einen so wunderbaren Vogel gesehen.“
„Du meinst, es gibt ihn vielleicht nur einmal?“
Der Kaufmann warf ihm nun einen bejahenden Blick zu.
„Ich denke eigentlich auch so“, meinte Yüo nachdenklich.
Mai nahm den Lederbeutel in seine Rechte, wog ihn mit der Kenntnis und Weisheit eines halben Lebens und lächelte. Auch Yüo lächelte, als Saat und Bärentatzen ihre Besitzer wechselten. Beide waren zufrieden. Beide fühlten sich als Gewinner dieses Tausches. Beide blieben gute und verlässliche Partner.
Der Prinz von Sind (11)
Die Regenzeit war kurz, aber gewaltig und ungestüm. Der scharfe Wind aus Osten trieb das Wasser in dichten Schleiern über das Land und überall bildeten sich im feuchten Boden Rinnsale und Pfützen. Chang Tou-fa kam in der zweiten Woche, nachdem die Tage des kalten Taus vorüber waren. Die runde Mütze hatte er - als Schutz vor dem Unwetter - mit dem weit ausladenden Bambushut getauscht. Sein Gewand war von der Brust ab durchnässt und seine Schuhe aus Schweinsleder trugen die feuchten Spuren des rotgelben Sandes. Fast hätte Yüo das Klopfen seines Freundes an der Tür nicht vernommen, denn der Regen wurde vom Wind gegen die Wände getrieben und die Äste der Kastanie schlugen fortwährend auf das Dach.
„Wo de peng you - du hast sicher Hunger. Komm schnell herein, wir wollen deine Kleider zum Trocknen aufhängen.“
Yüo hatte die Tür schnell von innen geöffnet und Chang am nassen Gewand in die Hütte gezogen. Der Duft von Hühnersuppe, geschmorten Pilzen, verbranntem Kiefernholz und Weihrauch erfüllte den angenehm warmen Raum und Chang erschauderte ob der wohltuenden Stimmung. Der Gast legte seinen Rucksack und die Hängetaschen ab, entkleidete sich und erhielt vom Unterrock bis zum Gewand neue und trockene Wäsche und, oh Wunder, eine Schale heißer Suppe und ein Glas stark gesüßten Tees bot ihm der Hausherr an, während draußen der Sturm um so mehr an den Wänden des Hauses zu rütteln schien. Sie rauchten die Pfeife und entzündeten weitere Riechhölzer, aßen von den Pinienkernen und freuten sich über den Schutz des Hauses und das Wiedersehen.
Auch an diesem Tag und in dieser Nacht gab es viel zu berichten: „Allerdings lässt sich der schöne Vogel bei diesem Wetter nicht bei mir sehen. Ich mache mir Sorgen, wo er sich aufhält, wo er sich vor Sturm und Nässe birgt.“
„Es wird wohl nicht an mir liegen, lieber Yüo?“
„Wie meinst du?“
„Ach, nur so.“
Und Yüo sah in den Worten seines guten Freundes mehr einen Scherz und er lachte. Da lachte auch Chang und Yüo vergaß diese Worte. Doch dann wurde Langhaar ernst und sprach von der Geduld und von dem Wasser, das solange steigt, bis es jedes Hindernis überwunden hat. Er sprach aber so, als ginge ihn der Vogel nichts an. Nach einer Weile des Nichtredens dann setzte der Gast sein Teeglas ab, nahm noch einen Zug aus der Porzellanpfeife und sprach:
„Mein guter Freund, ich möchte dir etwas erzählen.“
Er legte die Pfeife zur Seite und fuhr sich mit den Fingern, so wie er es immer gerne tat, durch das lange, schwarze und noch feuchte Haar und kämmte es nach hinten.
„Bevor ich die Reise zu dir antrat, war ich in Golmud, wie ich es oft tue, um dort Handel zu treiben und wichtige Dinge zu erstehen.“
Yüo nickte wissend.
„Dort hörte ich von jungen Novizen des nahe gelegenen Klosters, dass es eine wundersame neue Lehre gibt, die aus einem Land weit westlich von Zhong Guo stammt.“
„Eine neue Lehre? Aus Turfan oder Miran oder Niya?“
„Oh nein, mein Freund. Nicht aus Turfan oder dergleichen, sondern viel weiter entfernt.“
„So. Und – erzähle.“
„Die neue Lehre klingt recht sonderbar, aber auch anziehend.“
„Worum geht es in dieser Lehre? Um das Bogenschießen, wie der Tee richtig zubereitet und dargebracht wird, um die Musik, oder ...“
„ ... Nicht doch, wo de peng you. Es geht in dieser Lehre um viel tiefer gehende Dinge. Es geht um Frömmigkeit.“
„Um Frömmigkeit? Die haben uns doch die Alten überliefert.“
„Ja, aber hier geht es um eine ganz andere und neue Richtschnur des Lebens.“
„Du meinst, wie wir zu wandeln haben auf Erden, um nach dem Tode nicht dem Bösen ausgeliefert zu sein?“
„Ja, so ähnlich, aber...“
Yüo ließ Chang nicht ausreden.
„Was, ja, aber? Sind nicht unsere Vorfahren weise genug gewesen? Gaben sie uns nicht genug kluges Wissen!“
Der Sohn des Ku begann sich zu ereifern und Chang Tou-fa kannte sehr wohl diese Art des Freundes. Er machte deshalb eine beschwichtigende Bewegung mit beiden Händen.
„Natürlich, aber unser Reich ist nicht das Einzige, und um uns herum leben Menschen, die andere Erfahrungen und deshalb auch andere Weisheiten haben.“
„Ich bleibe bei meinem Glauben“,
gab Yüo nun ein wenig heftig und trotzig zugleich zur Antwort.
„Ich selbst ja auch, mein lieber Yüo. Aber gerne würde ich dir ein wenig von dieser fremden Lehre erzählen. Höre doch einfach nur zu, und dann magst du deine Fragen stellen.“
Yüo überlegte kurz. Dann nickte er und sprach etwas zögerlich:
„Wei le wo de yuan gu – sei es drum.“
Nun berichtete Langhaar von dem Prinzen, der zu Füßen des Urgebirges, im Lande der Schafkamele in behütetem Herrscherhaus aufgewachsen war. Wie er aber eines Tages auszog, um zu sehen, ob es allen im Lande Sind so ginge wie ihm, musste der Prinz bald erkennen, dass das wirkliche Leben ganz anders zu sein schien. Leiden und Kranksein, Armut und Ungerechtigkeit, Angst und Hoffnungslosigkeit, Sehnsucht und Qual waren so gegenwärtig wie die nach Reis ausgestreckte Hand. Alles dies hatte er zuvor nicht gekannt und der Königssohn war zutiefst darüber erschüttert, wie es draußen in der Welt zuging. Doch er beließ es nicht bei seiner Bestürzung. Immer wieder zog es ihn hinaus in die Welt, immer wieder verließ er die schützenden Mauern des väterlichen Palastes. Eines Tages war er nicht mehr zurückgekehrt, sondern hatte sein Bett getauscht gegen die staubigen Straßen, hatte seine feinen Gewänder abgelegt und wandelte in schlichten, gelben und bald dreckigen Leinengewändern. Bald war er ein Armer und Leidender, ein Kranker, der mit Schwären übersät war wie andere und wurde wie sie ungerecht behandelt.
Chang nahm von dem Tee und sprach:
„Der Prinz aber fragte sich, wie der Mensch aus dieser Armseligkeit herausfinden könnte. Zwar wäre es ja für ihn ein Leichtes gewesen, dem Elend den Rücken zu kehren, und der Vater hätte den verlorenen Sohn mit offenen Armen wieder aufgenommen. Es musste aber, außer dem Weg zurück in das Fürstenhaus, eine andere Strasse aus der Erbärmlichkeit zum immerwährenden Glück und beständiger Zufriedenheit geben. Denn sonst wären ja all die Menschen, die keinen reichen Vater haben und einen Arzt bezahlen können, für immer zu einem Leben in Kümmernis verdammt.“
Yüos Mund stand offen. Eine solche Geschichte hatte er nicht erwartet. Dann fragte er den Erzählenden:
„Und diese Strasse hat er gefunden?“
„Ja, nach vielen Jahren der Wanderschaft und des Suchens hatte er eine Erleuchtung“, fuhr Chang fort.
„Ihm wurde klar, dass das Leben des Menschen immer auch mit Entbehrungen aller Art verbunden ist. Leid gehört zum Dasein. Erst wenn wir sterben, können wir ohne das Leid weiterleben.“
„Aber wie sollen wir leben, wenn wir gestorben sind? Das verstehe ich nicht.“
Es vergingen die Abendstunden, es verging die halbe Nacht. Chang Tou-fa sprach von dem Prinzen, sprach von seiner Frömmigkeit, sprach von seinem Weg ins Glück. Er sprach aber von dem, was er von anderen gehört hatte, wissend, dass auch dies nicht alles war. Die jungen Mönche aus Golmud hatten dem Chang auch berichtet, dass der Abt des Klosters schon seit langem auf die Rückkehr eines Abgesandten aus dem Lande Sind wartete, um noch Genaueres über den Prinzen zu erfahren. Chang Tou-fa sprach weiter zu Yüo, sprach über das Begehren, durch welches das Leid erst Besitz von den Menschen nimmt. Begierde und Verlangen seien es, die sterben müssten, nicht der Mensch selbst. Dann wäre das Leid überwunden.
„Wenn der Mensch leidet, mein lieber Freund, dann leidet er an sich selbst!“
Chang nippte nun an dem Becher mit Traubenwein und schaute vielsagend. Yüo runzelte seine Stirn, kniff die Augen etwas zusammen und sagte spitz:
„Das klingt, als seiest du auch schon ein Jünger des Prinzen und willst nicht mehr auf dem alten Pfad bleiben, wie du vorhin noch beteuert hattest. Willst du etwa auch mich bekehren und vom rechten Glauben abbringen?“
„Oh nein, soweit ist es noch nicht.“
Chang lachte.
„Ich habe nur wiederholt, was ich gehört habe. Doch ich will dir weiterberichten, wenn ich darf.“
„Du darfst, wenn du beteuerst, mich nicht bekehren zu wollen und dass du selbst auf dem Weg unseres Glaubens bleibst.“
„Ich beteure beides!“
„Gut. Dann erzähle mir weiter.“
„Also: Der Fürstensohn lehrte einen achtfachen Pfad, um diesen Zustand des leidfreien Daseins erreichen zu können, und dass der Mensch nach seinem leiblichen Tod als neuer Mensch, oder als Tier oder irgendeine Kreatur nochmals auf diese Erde kommt, bis dieser vollkommene Zustand erreicht ist, und ...“
„... du meinst“,
unterbrach ihn Yüo,
„dieses unser Leben sei womöglich nicht das erste und auch nicht das letzte?“
„Nicht ich, sondern der Prinz meint dies“,
äußerte da der Chang Tou-fa schelmisch und führte seinen angefangen Gedanken fort.
„Manche zwar schaffen es in ihrem ersten Leben in den leidlosen Zustand zu gelangen und sie brauchen auch nicht noch einmal geboren zu werden. Doch das sei eine Ausnahme. Die meisten Menschen benötigen viele irdische Aufenthalte, bis sich ihre Seele dann nach dem Irren durch die Meere des Wahns auflöst und Frieden hat. Selbst der Prinz musste viele Leben leben, um sein Ziel zu erreichen.“
Yüo war nun verwirrt. Wie schön müsste es sein, wenn dieses Leben nicht das Einzige wäre, und er vielleicht ein weiteres geschenkt bekäme und dann noch eines und so fort. Er hatte Angst vor dem Jenseits. Er stellte sich die Welt der Ahnen eher rätselhaft dunkel und kalt vor. War dagegen nicht die Wiedergeburt etwas Verheißungsvolles! Yüo liebte das Leben, die Blumen, die Schmetterlinge, die reifen Kornfelder und den Duft der gepflügten Äcker. Er liebte den Schnee und die Stürme. Die Dunkelheit und den Nebel liebte er nicht. Chang unterbrach die Gedanken Yüos und sprach:
„Ich will dir noch genauer von dem achtfachen Pfad berichten.“
Doch Yüo machte eine freundliche Handbewegung und meinte mit einem lächelnden Gesicht:
„Es ist nun doch genug für heute. Berichte mir ein andres Mal davon, denn es ist doch alles sehr viel Neues, über das erst nachgedacht und meditiert werden muss.“
„Aber hattest du mich nicht eben gebeten, weiterzuerzählen – und nun doch wieder nicht.“
„Ja doch, du hast recht. Aber ich mag im Moment nicht mehr.“
„Wie du meinst, wo de peng you.“
Sie sprachen noch lange über dieses und jenes – nicht aber sprachen sie über den Prinzen. Chang nahm den Freund mit seiner Bitte ernst. Die Nacht war schon weit vorgerückt, als sie sich zur Ruhe betteten.
(12)
Als der Freund weiter gezogen war und Yüo seinem Tagewerk nachging, merkte er, wie ihn die Lehre des Prinzen tief berührt hatte. Er bereute, Chang nicht weiter zugehört zu haben, aber so war er nun einmal – voller Widersprüche. Yüo war zweifelnd, war voller Fragen und war voller Zwiespalt. Auch an den folgenden Tagen dachte der Sohn des Bauern Ku immer wieder über das nach, was ihm der Chang berichtet hatte. Trotzdem waren auch Zweifel da. Denn was sollte das Reden von einer neuen und immer neuen Geburt? Dann wären die Hauchseelen der Verstorbenen ja als Lebende mitten unter Ihnen. Es könnte sich dann auch in mancher Kreatur ein Ahne verbergen und das Töten einer Ziege oder eines anderen Geschöpfes wäre dann ganz unmöglich. Wie sollte er auf ein Stück Fleisch und wie auf die Hühnersuppe verzichten? Wie sollte er keine Blume mehr pflücken dürfen? Und hatte nicht der alte Laozi für immer klargestellt, dass der Mensch nur dann aus dem Netz der Täuschung, Nichtigkeit und Begierde befreit werden kann, wenn er im Einklang mit den Gesetzen der Natur lebt, so wie er es auch Tag für Tag versuchte? Ja, das würde er beim nächsten Treffen mit Chang Tou-fa zur Sprache bringen. Er war gespannt auf die weiteren Erzählungen über den Prinzen und dessen Lehre, denn trotz seiner Zweifel reizte ihn der Gedanke an ein Wiedererscheinen auf dieser Erde, wie es jener Prinz lehrte. Und etwas zu tun für den Schutz auf Erden, ohne Angst und ohne Furcht zu haben, das wäre auch nicht schlecht. Yüo spürte seine Zuneigung zu dem Prinzen von Sind.
Als der Tag des Neumondes gekommen war, opferte der Bauer wieder seinen Vorfahren an dem kleinen Hausaltar. Längst aber hatte Yüo erkannt, dass es Angst war, die ihn zum Opfern bewegte. Es war nicht Liebe oder Freiwilligkeit. Es war die Furcht, der Schutz der Götter könne ausbleiben, wenn er die Gebete nicht sprach. Es war die Angst, es könne ihm oder anderen etwas Ungutes und Bedrohliches widerfahren, wenn er das Räuchern unterließ. Es war der Zwang, der ihn dazu bewegte, den Opfertisch nicht leer zu lassen. Es waren Allmachtsgedanken, so als wäre er einer der Götter selbst. Denn wenn er betete, für dieses und jenes, dann blieb die Welt um ihn herum in Ordnung. Ja, er durfte nichts auslassen und vergessen, dann könnte genau dort etwas Schlimmes geschehen. All dies hatte er wohl im Kopf verstanden – allein, in seiner Seele war es noch nicht angekommen. Es war ihm wohl bewusst – aber er hatte nicht den Mut zur Umkehr. Vielmehr wünschte Yüo sich, er bräuchte nur an einem Rad zu drehen und alle Gebete, alle Opfergänge, alle Bräuche wären damit erledigt. Denn all das Flehen und die heiligen Handlungen waren ihm zur Last geworden.
Dunkle Wolken, der schwarzen Schildkröte gleich, brachten Schneeflocken von Osten mit sich. Die nun folgenden Wochen gaben der Natur neue Kraft für die bevorstehende Zeit von Blüte und Ernte. Es kamen auch die Stürme, eisig, trocken und zornig, so als wollten sie dagegen das Leben auslöschen. Sie trieben Sand und Staub der Wüste vor sich her und wirbelten sie bis hoch in die Sphären. Ihr Brüllen klang wie das Lärmen der Kamele zur Brunft und die Sonne war tiefrot, als wollte sie den bösen Geistern Einhalt gebieten. Der Landstrich war nun in ein unwirkliches Licht gehüllt. Doch die Hütte am Rande der Rong-Steppe hielt all dem Stand und war ein Ort der Geborgenheit. Yüo freute sich auf die folgenden klaren Nächte, wenn er – eingehüllt im Yakfell - am knisternden Lagerfeuer sitzen konnte.
Der Wunsch, den Bambusvogel als Gast zu haben, war groß und Yüo litt unter dieser Entbehrung. Aber hatte nicht sein Freund davon gesprochen, dass Verlangen Leid mit sich bringt? War der Prinz vielleicht doch auf den richtigen Weg gelangt? Yüo hatte an manchen Tagen des Winters darüber nachgedacht. In vielen Stunden hatte er versucht, durch Meditieren und Konzentration die Sehnsucht nach dem schönen Vogel aufzugeben. Jedoch gelang es ihm nicht und der junge Mann ertappte sich bei dem Gedanken, dass ein Sterben dieses Wunsches noch mehr Gram für ihn bedeuten könnte und er dieses Verlangen deshalb gar nicht ablegen wollte.
„Wenn du doch nur noch einmal kommen würdest“, flüsterte Yüo in die Nacht, als er wieder einmal am Feuer saß und in diesem Moment wusste er, was er tun wollte für den Fall und für den Augenblick in dem der Bambussänger den Weg wieder zu ihm finden würde. Ja, wenn!
B o t e n (13)
Stürme und Kälte ließen nach. Warme und feuchte Luft kam als erstes Zeichen des herannahenden Frühlings. Das Yin begann, sich im Zyklus der Veränderungen dem Zustand des Yang zu nähern. Ein Ringkampf, der unvermeidlich war und dessen Ausgang doch vorhersehbar schien. Ein verständnisvoller Austausch der widersprüchlichsten Kräfte vollzog sich. Schlaf wich dem Wachsein, Stillstand dem Wachstum, Einhalt der Bewegung, Schweigen dem Gesang, Nahesein dem Auseinandertreiben! Wie immer würde der blaue Drache den Sieg erringen und die schwarze Schildkröte für die nächsten Monate nach Norden noch hinter das große Gebirge verdrängen. Der Atem des Südwindes erwärmte den Boden und das üppige Kraut fing an zu sprießen. Als Erste blühten die Pflaumenbäume im Steingarten – sie waren die Freunde des Winters, denn noch während die letzten Schneeflocken fielen, schwollen ihre Knospen bereits. Ihnen folgten die Birken mit ihren zartgrünen Ansätzen und dann die zarten Sprossen des Bambus. Yüo begrüßte die ersten Mücken, die um noch graugelbe Grasbüschel kreisten. Er lauschte dem Gesang der Vögel, die aus ihren Winterquartieren zurückgekehrt waren.
Noch immer war der Stapel des Bambus neben der Hütte nicht verarbeitet. Aber an einem jener ersten wärmeren Tage begann Yüo dann aus dem befeuchteten Riedstock, dem Bündel ebenen Holzes und einem Hanfseil ein Vogelgitter zu flechten. Den Rat der Vorfahren, den Dingen ihren Lauf zu lassen und den natürlichen Fluss nicht zu hindern, sah er dadurch nicht verworfen. Wu Wei bedeutete ja nicht das vollkommene Untätigsein! Sein Herz hatte ihm gezeigt, dass er den Vogel, käme er denn zurück, für immer bei sich haben wollte. Deshalb war es nur folgerichtig, diesen Käfig zu bauen. Sprang der Vogel hinein, dann wäre es gut. Wenn der Wind des Lebens sein Schiff an neue und unbekannte Ufer treiben sollte, dann musste er zumindest die Segel auch aufspannen und dies tat Yüo. Damit erzwang der Sohn des Ku nichts. Er schaffte nur die Voraussetzungen. Aber ob der Bambusvogel noch einmal geflogen kam? Hatte er den Winter denn überlebt? Vertieft in seine Arbeit, war Yüo mit solchen Gedanken beschäftigt.
„Oh, ein Handwerker und ein Künstler bei der Arbeit!“
Yüo fuhr herum. Ein stattlicher Mann stand vor ihm. Er maß wohl fast sechs Chi und der junge Bauer musste etwas aufschauen, um seinem Blick begegnen zu können. Die Kopfform war von auffälligem Oval. Der Fremde trug keine Kappe und das lange schwarze Haupthaar war nach hinten zu einem Zopf zusammengebunden. Seine hohe und breite Stirn schien offen für die Gaben des Himmels. Aus dem Gesicht mit der etwas platt gedrückten und gebogenen Nase sahen ihn zwei funkelnde, tiefliegende und doch gütige Augen an. Die Backenknochen waren etwas hervorstehend und sanft gewölbt. Die Gesichtshaut war vom Wetter gegerbt und doch von feiner Struktur. Die Lippen des Mannes waren voll und leicht geschwungen. Sie zeugten von einer gewissen Lebenserfahrung, Zufriedenheit und doch auch Ernsthaftigkeit. Die Brauen lagen in einem leichten Rund üppig über den Augenhöhlen und reichten etwas über diese bis zu den Schläfen hinaus. Das Kinn war von einem spärlichen Bart bedeckt. Der Überwurf aus Schweinsleder konnte das blaue Untergewand nicht ganz verbergen. Von beiden Schultern hingen große Ledertaschen herab und ebenso trug er auf dem Rücken einen Sack aus grauem Leinen. Er musste ein Tempelpriester sein!
Der Priester hatte zwei Begleiter – junge Männer, die wohl kaum ein paar Jahre weniger als Yüo zählten und die rundäugig waren. Auch sie trugen schweres Gepäck über den Schultern und auf dem Rücken, denn die Gurte strafften sich sehr. Auch ihr Haar war schwarz und reichte ihnen bis auf die Schultern. In respektvollem Abstand standen sie hinter dem Mönch. Yüo hatte das Herannahen der drei Wanderer nicht bemerkt.
„Oh, Xian Sheng - vornehmer Fremder - hast du, habt ihr heute schon euren Geist und Körper gestärkt? Ich habe eine Schale gedünsteten Reis und etwas Hühnersuppe für euch. Verzeiht mir, ich hörte euer Nahen nicht. Zu vertieft war ich in mein Werk. Qing yuan-liang – bitte entschuldigt! Ihr seht ein wenig müde und erschöpft aus.“
Yüo überschlug sich vor Freundlichkeit und war selbst erstaunt über seine Einladung zur Suppe. Die Neuankömmlinge machten einen überwältigenden Eindruck auf ihn.
„Danke, mein Sohn, für diesen Empfang und verzeih’ ebenfalls, dass wir dich so begrüßt und erschreckt haben. Aber ich räusperte mich und du nahmst es nicht wahr.“
Yüo nickte. Sein Gesicht zeigte dabei sowohl Entschuldigung, als auch Verständnis.
„Wir sind schon eine lange Zeit unterwegs und deshalb sind wir erfreut über deine Worte und wir danken dir daher für die Einladung zum Essen.“
Der Priester neigte seinen schwer bepackten Oberkörper dem jungen Bauern entgegen. Während dieser Verbeugung hob er die Rechte seiner Stirn entgegen. Yüo antwortete mit der gleichen Geste und auch die beiden jungen Männer taten es.
„Dürfen wir?“, Yüo nickte.
Die Wanderer streiften ihre umgehängten Taschen und die Rückensäcke ab und ließen sie auf den Boden gleiten. Ebenso legten sie auch ihre Überwürfe ab und warfen diese über das Gepäck. Nun traten sie ein paar Schritte zum Feuer vor. Die beiden jungen Männer aber waren mit einem naturbelassenem Untergewand bekleidet.
Sie saßen bei gekochtem Reis und gebratenen Nudeln, fischten mit den Stäbchen Pilze, Hühnerfleisch und Gemüse aus der dampfenden Suppe und tranken den schwarzen Cha.
„Ward ihr lange unterwegs? Habt ihr an Stürmen und Frost leiden müssen?“, fragte Yüo die Reisenden..
Der Mönch antwortete :
„Wir kamen entlang der Bergzüge südlich der Wüste Taklamakan zum Pferdehufkloster und nach der Stadt des hellen Feuers. Wir wandten uns dann weiter nach Süden, bis wir auf einen Fluss stießen. Dann sind wir dem Pfad durch das Baumland gefolgt und gelangten so zu dir.“
Der Wandermönch legte eine Pause ein und seine Gedanken schienen dabei in die Ferne zu schweifen. Der Ton aber, in dem er gesprochen hatte, war mild, warm und rhythmisch. Yüo schien es daher, dass der Mann eine großzügige, weiche und zuverlässige Seele haben müsse und dass Menschen sich ihm anvertrauen könnten. Und der Priester sprach:
„Zuvor haben wir uns zwei Jahre im fernen Lande Sind aufgehalten...“
„Sind?“, unterbrach ihn Yüo und fuhr fort: „Ich habe schon von dort gehört.“
„So? Wie du dann vielleicht auch weißt, ist das Land nach einem mächtigen Fluss, dem Sind, benannt. Von uns aber, den Menschen des gelben Volkes, wird es Tienchou genannt.“
„Ja, Herr, davon habe ich gehört.“
„Nun denn, ich will dir etwas erzählen. Das Wasser des Sind gilt den Menschen dort als heilig. Wer sich in seinen Fluten badet – so wird berichtet – wird von seinen Verfehlungen gereinigt. Vom Lande Tienchou drang das Gerücht einer neuen Lehre an den Kaiserhof. Nun hatte aber der erhabene, hochwürdige und unsterbliche Herrscher unseres Reiches, er möge zehntausend Jahre leben, einen Traum. Ihn träumte von einem großen Mann von goldener Farbe und einem ebenso goldenen Vogel, der sich aus der untergehenden Sonne kommend auf den Mauern seines Palastes niederließ. Als nun der Kaiser seine Berater über das Geträumte befragte, sprachen sie von einem Erleuchteten, den es in einem fernen westlichen Land geben sollte.“
„Und weiter“, sagte Yüo gespannt, als der Mönch eine Pause eingelegt hatte, um von dem Tee zu trinken.
„Der Kaiser nun sandte einen Boten nach Westen. So kam er auch zu uns in das Kloster und berichtete von seinem Auftrag. Unser Abt bat den Hofbeamten, mich mit auf die Reise zu nehmen, damit wir vereint auskundschafteten, was es mit dieser Lehre und ihrer Entstehung auf sich hat. Dieser hat zugestimmt und so zogen wir gemeinsam weiter. Du musst wissen: Unser Abt ist ein Suchender.“
„Du bist ein Mönch vom Kloster in Golmud?“
„Ja, das bin ich.“
„Ich habe bereits von Dir gehört.“
„So, von wem?“
„Von meinem Freund Chang Tou-fa.“
Sprach der Tempelpriester:
„Wir werden von hier weiter ins Reich ziehen bis hin zu den Fünf Heiligen Bergen, um dort den Ahnen für die geglückte Rückkehr zu danken. Es ist auch die Gelegenheit, meinen beiden Begleitern diesen ehrwürdigen Ort zu zeigen.“
Die beiden Männer nickten beifällig und dankbar. Gesprochen hatten sie bisher immer noch nicht. Der Wandermönch aber fuhr fort:
„Dann wollen wir zurückkehren nach Golmud, um unserem Tempelherrn Bericht zu geben.“
„Aber solltet ihr nicht erst nach Golmud wandern und dann...“
Der Mönch unterbrach Yüo.
„Sicher ist dies ein sehr großer Umweg und er scheint wider die Vernunft. Doch solltest du wissen, dass wir auf der Rückreise vom Lande Tienchou in Gefangenschaft gerieten und unsere Rückkehr ein unerwartetes Geschenk der Götter ist.“
Erstaunt blickte Yüo vom Priester abwechselnd zu den beiden jungen Begleitern, kniff leicht die Augen zusammen und wandte sich dann wieder an den Wandermönch.
„Ihr wart eingekerkert?“
„Ja, und der Fürst, in dessen Gewahrsam wir uns wohl zwei Monate befanden, ließ uns – wie du siehst - am Leben. Er richtete uns nur deshalb nicht hin, weil er die Schwester einer Mätresse unseres Kaisers zur Frau genommen hatte. Nun kam ein Tag, an dem der Fürst eine ausgelassene Feier veranstaltete. Während des festlichen Treibens gelang uns die Flucht, und wir wanderten fünf Tage und Nächte fast ohne Rast und Schlaf, um den Häschern zu entkommen. Aber bis heute sind wir uns nicht sicher, ob diese überhaupt je unsere Verfolgung aufgenommen haben. So wollen wir unsere Freiheit nicht für selbstverständlich nehmen und sie an zweite Stelle setzen.“
Nach einer Zeit des Schweigens räusperte sich der Mönch und es war ihm so, als wüsste er nicht recht, was sprechen. Doch dann redete er so:
„Als wir zu dir kamen, haben wir dich in deiner wichtigen Arbeit unterbrochen...“
„Nun, mein Herr. Ich sah vor einiger Zeit einen wunderschönen Vogel, der mir hier auf meinem Besitz Gesellschaft leistete. Seine Melodien verzauberten mich. Nie hatte ich so seltsam schöne Tonfolgen gehört. Doch den ganzen Winter über kam er nicht zu mir und ich fürchte, es ist ihm Schlechtes widerfahren.“
Yüo beschrieb den Vogel in all seiner Pracht. Dann hielt er inne, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Ließ sich denn die Anmut des Vogels und ließ sich der Liebreiz seiner Melodien überhaupt in Worte fassen?
„Vielleicht habt ihr unterwegs einen solchen Vogel gesehen? Denn sollte er zurückkommen, dann möchte ich, dass er für immer bleibt. Deshalb bin ich dabei, für diesen Fall einen Käfig zu bauen.“
Die beiden Jünglinge hatten den Worten aufmerksam gelauscht. Schon beim ersten Blick auf die beiden hatte Yüo erkannt, dass sie nicht vom Gelben Volk stammten. Sie waren wohl einen Kopf kleiner als ihr Herr. Die Nasen waren scharf und die runden Augen tiefliegend und listig, aber nicht böse - eher begabt. Dunkle Brauen wölbten sich über den Augen und ihre Stirn ließ auf Klugheit schließen. Die Farbe ihrer Haut war wie Bronze und die Lippen waren übermäßig voll und geschwungen. Einen Bart aber trugen sie nicht. In gewisser Weise sahen sich die beiden ähnlich und schienen gleichaltrig zu sein. Sie hatten bei den Ausführungen des jungen Bauern interessiert und erwartungsvoll geschaut. Der Lehrer aber gab zur Antwort:
„Oh nein, wir haben ein solches Geschöpf bisher nicht gesehen.“ Auch seine Begleiter schüttelten den Kopf.
„Und ich will dir auch nicht hereinreden“, fuhr der Priester fort.
„Wir wissen erst ein paar Augenblicke voneinander und es ist daher nicht gut, dir Ratschläge zu geben. Dennoch, wenn ich dich recht verstehe, hat die Lieblichkeit des Vogels dich überwältigt. Ich sah deine Augen leuchten, als du erzähltest.“
Die beiden Novizen nickten nun wissend.
„Bedenke jedoch“, fuhr der Herr fort und er sah dem Yüo fest in die Augen,
„ist nicht die schillernde Muschel gleich einer farblosen Hülse, nachdem man sie aus dem Wasser gezogen hat? Und der Mohn - wenn er so prächtig blüht und er dich zum Pflücken einlädt, was bleibt von ihm, wenn du es denn getan hast? In der Hälfte des Tages fallen seine roten Blätter zu Boden. Und...“ er legte eine kurze Pause ein und vollendete den Satz, „nur wenn du der Prinzessin nicht zu nahe trittst, ist sie schön.“
Yüo blickte den Wandermönch nicht an, sondern sah verschämt zu Boden. „Dui – Recht hast du - du meinst es wäre nicht richtig, den wunderbaren Vogel einzusperren?“
Vorsichtig wagte er nun einen Blick nach oben.
„Nun, jeder von uns muss tun, was sein Herz ihm sagt. Ich würde wohl anders handeln und meine Begleiter wiederum würden es wohl vielleicht tun wie du.“
„Ja. Und ich möchte auch keinesfalls Gewalt anwenden. Sollte dieser Vogel noch einmal nach hier kommen, dann überlasse ich es ihm, ob er sich in das Gitter begibt.“
Botschaft (14)
Es war nun Zeit für die kleine Gesellschaft ein wenig zu schweigen und gemeinsam den heißen Cha zu schlürfen. Der Gastgeber hatte mit den Teeblättern auch solche des Bitterkrautes mit aufgebrüht. Sie waren gut zur Stärkung von Leib und Seele. Als Yüo seine Schale zum zweiten Male abgesetzt hatte, sagte er zu seinen Gästen gewandt:
„Es muss also die Lehre des Prinzen sein, die ihr eurem Tempelherrn überbringen sollt. Ihr werdet ihm von dem Königssohn berichten, der auszog, um das Leben außerhalb des Palastes kennenzulernen und der den achtfachen Pfad lehrte.“ In Yüos Gesicht legte sich ein wenig Stolz.
„Du weißt demnach von dem Weg, den der Prinz lehrte“, bemerkte sein Gegenüber. Er hatte es nicht fragend gesagt. Es klang eher herausfordernd, so als wollte er sagen: Wenn du also um die Lehre weißt, dann handle auch danach!
„Nun ja“, antwortete Yüo deshalb etwas verlegen, und Röte glitt ihm ins Gesicht, „der Freund vom Schilfsee hat mir berichtet, dass der Prinz die Quelle der Glückseligkeit und der Zufriedenheit sein soll. Doch von der reinigenden Kraft des Flusses sprach er nicht. Ich mag auch kaum glauben, dass es sich so verhält.“
„Warum meinst du dies?“
„Herr, wenn wir Menschen fehlen, dann geschieht dies doch in unserem Inneren, in unserem Herzen. Wie kann dann eine körperliche Waschung uns davon reinigen?“
„So, und wie meinst du, kann dann unser Herz wirklich gereinigt werden?“
„Durch Opfergaben, Gebete und Fasten, denke ich.“
Die Jünglinge schauten gespannt auf ihren Herrn. Sie saßen rechts und links von ihm. Ab und zu während der Unterredung hatte der Mönch seine Hände auf ihre Oberschenkel gelegt. Nach den letzten Worten Yüos blieb der Mönch still. Er schaute nur milde auf den jungen Bauern. Yüo erkannte, wie unsinnig seine Bemerkung gewesen war, und glaubte zu spüren, dass der Tempelpriester seine Abneigung gegen all diese Bräuche erkannt und ihn durchschaut habe. Daher bat er:
„Könnt ihr mir von dem Prinzen und seiner Lehre erzählen! Ich weiß bestimmt nicht alles über ihn.“
Yüo dachte bei seinen Worten auch an seine nächste Begegnung mit Langhaar und wie er diesen mit seinem neuen Wissen verblüffen könne.
„Ich bin dir dankbar“, meinte der Mönch, bevor er auf die Bitte des Hausherrn einging, „wenn du mich nicht mehr mit ‚Herr’ ansprichst und auch ich will dich nicht mehr ‚mein Sohn’ nennen. Mein Name ist Luanxing und, wie ich schon sagte, bin ich Mönch vom Kloster bei Golmud, und ich bin gerne dein Gast. Ebenso fühlen sich auch meine Begleiter bei dir sehr wohl.“
Die beiden nickten begeistert mit dem Kopf und der Mönch fuhr fort: „Sie werden Guang und Jiao von mir genannt.“
„Wir stammen aus dem Land am äußersten Bogen des Westens“, sagte endlich der eine von ihnen. Es war der Jiao. Seine Art, die Worte des Gelben Volkes auszusprechen, war so, dass der Sohn des Bauern Ku lächeln musste. Aber er verstand den Fremden trotzdem sehr gut.
„Und ich bin Yüo, Sohn des Bauern Ku aus Yushu und Qamdo.“
„Sei gegrüßt, Yüo, und danke noch einmal, dass wir deine Gäste sein dürfen.“
Sie nickten sich leicht zu und der Alte fuhr fort::
„Du fragtest micgegangen ist?“
„Ja, Herr, ich bin von großer Neugier.“
„Nun - dann will ich dir erzählen: Es ist schon sehr viele Menschenleben her, da der Sohn des Königshauses aus dem Geschlecht der Quanxian im Lande Tienchou unter den Menschen wandelte. Über vierzig Jahre hatte er seine Erkenntnisse gepredigt, aber seinen Jüngern und seinen Zuhörern untersagt, die Lehren aufzuschreiben. Viele von ihnen wollten so leben wie er. Deshalb wurden seine Worte von einem Geschlecht zum nächsten mündlich überliefert. Die Schar seiner Anhänger aber ist mit der Zeit so sehr angewachsen, dass der Urgroßvater des gegenwärtigen Königs von Sind befohlen hatte, die Überlieferungen des Prinzen doch nieder zu legen.“
„Und?“
„Zunächst schrieben die Anhänger des Prinzen dessen Reden auf getrocknete Palmenblätter.“
„Palmenblätter“, wiederholte Yüo langsam und gedehnt und fuhr sich dabei mit der Rechten durch den Bart.
„Ja, die Blätter wurden dann mit dünnen Fasern aus Hanf aneinander gebunden. So wie es unsere Alten auch mit den Bambusholzstreifen getan haben.“
Yüo nickte.
„Es entstanden damit die berühmten Fadensammlungen, die in Körben aufbewahrt wurden.“
„Wie viele Körbe wurden gefüllt?“, wollte Yüo nun wissen.
„Oh, es sollen zwölf große Körbe gewesen sein. Aber manche behaupten, es seien noch viel mehr. Denn was der Prinz gelehrt habe, könnten alle Körbe von Sind nicht fassen.“
Ein schelmisches Lächeln funkelte bei diesen Worten in den Augen des Mönches als er fortfuhr:
„Wie dem auch sei. Jedenfalls haben in den nachfolgenden Jahren schreibende Mönche von diesen Sammlungen Abschriften auf Pergament gefertigt und sie in jedes Kloster des Landes geschickt.“
Yüo schenkte frischen Tee nach und reichte seinen Gästen das Gefäß mit dem braunen Zucker. Der Rauch des Feuers erfüllte die Luft mit Würze und mit Harz.
„Es gibt nun unzählige Rollen von Pergament im Lande Sind. Sie sind eng beschrieben, denn es wurden nicht nur die Predigten des Erleuchteten wiedergegeben, sondern auch viele Anmerkungen von weisen Männern hinzugefügt.“
Luanxing drehte seinen Oberkörper ein wenig nach hinten, deutete mit seiner Rechten auf sein abgelegtes Obergewand, unter dem sich seine Ledertaschen und der Rucksack befanden, und sprach weiter:
„Wir haben einige der Schriften in Tienchou erstanden und – den Göttern sei es gedankt – sie durch die Zeit der Gefangenschaft und der Flucht hindurch retten können. So dürfen wir Bewohner von Zhong Guo nach fast fünfzig Dekaden von Jahren vielleicht eine Zeitenwende durch diese Botschaft erleben.“
„Glaubst du, dass unsere Gläubigkeit nicht ausreicht, um den Göttern zu gefallen?“
„Doch, aber darum geht es nicht.“
„Sondern?“
„Es geht darum, ob wir in diesem Leben glücklich sein können, ohne dem Mitmenschen zu schaden und ob wir trotz des eigenen Leides den anderen nicht belasten.“
„Mmmh.“
Yüo war betroffen. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Er wollte das Thema wechseln und fragte deshalb den Mönch:
„Aber schreiben die Menschen aus dem Westen denn auch so wie wir und ist ihre Sprache ähnlich der des Gelben Volkes?“
Yüo warf abwechselnd einen Blick auf die beiden jungen Männer. Luanxing ging darauf ein.
„Oh nein, ganz und gar nicht. Die Aufzeichnungen des Westens unterscheiden sich von der Art unseres Volkes, wie sich Mann und Weib unterscheiden und es ist auch keine Ähnlichkeit mit der Art, wie wir sprechen, zu erkennen. Ich werde die Schriften Zeile für Zeile übertragen müssen.“
„Du denkst also“, sprach dann Yüo, „die Botschaft ist es wert, befolgt zu werden und wir sollten unsere Lehre in einem neuen Lichte sehen.“
„Keinesfalls werden und können wir unsere alten Überlieferungen vernachlässigen. Wir sollten aber hinzutun, was ihnen nicht widerspricht und was uns hilft, besser zu verstehen, was in diesem Leben wichtig und was unwichtig ist. Deshalb will ich mich auch mit meinem Herrn im Kloster zu Golmud beraten und ihm die Lehre vortragen, damit wir den gottgewollten Neuerungen nicht im Wege stehen.
So höre nun aber, wie die ganze Geschichte begann: Nach der Geburt des Prinzen gab ihm der Vater die Beinamen ‚der groß sein wird’ und ‚der sein Ziel erreicht hat’. Von seinen Anhängern wurde er aber später der ‚Weltflüchtige’ genannt. Warum, das erzähle ich dir jetzt.“
Yüo richtete seinen Körper kerzengerade auf und hörte gespannt weiter zu.
„Nun, sieben Tage nach seiner Geburt starb die Mutter, da das Kind, das sie geboren hatte, ein einzigartiges sein sollte. Zehn Monate zuvor hatte sie ihrem Gemahl bedeutet, dass sie beabsichtige, keusch zu leben und wenig später träumte ihr, ein weißer Elefant ginge in sie ein. Tatsächlich wurde sie ohne Zutun eines Mannes schwanger und gebar den Prinzen.“
„Du meinst ...“, sprach der junge Bauer verhalten und blickte dabei verschämt zu Boden.
„Ja genau, es ging kein Mann zu ihr ein.“
Der Mönch machte eine Pause. Yüo schaute auf und bemerkte, wie Guang und Jiao wissend schauten. Der Alte aber lächelte weise und fuhr fort:
„Von den Gelehrten des Landes wurde über ihn vorausgesagt, er würde einmal ein großer König, ein Feldherr, ein Welteneroberer, oder der Führer einer neuen Erkenntnis. Seine Zukunft sei die eines Weltenerleuchters; er würde einer, der die Welt verändert.“
„Von dieser Weissagung allerdings hörte ich noch nicht“, bemerkte Yüo. Der Tempelpriester erzählte weiter:
„Der Vater des Prinzen war Herrscher über ein kleines Königreich im Lande Xizang und er ließ den Jungen in der Kunst des Krieges und der Staatsführung unterrichten und wollte natürlich, dass sich die Weissagungen auch erfüllten. Der Prinz war umgeben von schönen Frauen und nannte eine von ihnen sogar sein Eigen. Sie war eine Prinzessin und sie hatten einen gemeinsamen Sohn. Der Prinz trug hübsche Kleider und ihm wurden die besten Köstlichkeiten zu Tische getragen. Aber da du ja schon ein wenig von seinem Leben erfahren hast, ist dir bekannt, dass dieser Tagesablauf ihn langweilte und nicht erfüllte und dass er sich für den anderen Weg entschieden hat.“
Luanxing ließ sich von seinem Gastgeber noch einmal von dem grünen Cha nachschenken und wollte fortfahren, doch Yüo warf eine Frage dazwischen:
„Der Sohn des Herrschers hat also das Erbe seines Vaters nicht weitergetragen?“
„Ja genau, der Sohn ging einen anderen Weg. Er verzichtete auf den Besitz und darauf, ein König zu werden. Die Erleuchtung aber, die er eines Tages erlangte, ist ebenfalls nicht vererbbar wie ein Titel, wie Gold oder wie Ländereien. Diejenigen, welche den Weg des Prinzen gehen, sind seine wirklichen Erben.“
Yüo saß mit halb geöffnetem Mund und lauschte den Worten des Luanxing.
„Dreimal verließ der Prinz den Hofstaat des Vaters, um immer verstörter und trauriger in die Geborgenheit zurückzukehren. Doch beim vierten Ausritt blieb er unter den gebeugten Menschen und kehrte nicht zurück. Der Sohn des Königs scherte sich selbst sein Haupthaar und legte das gelbe Gewand der Asketen an. Er ließ die Seinen zurück, um in den Wäldern über den Sinn seines Lebens nachzudenken. Er durchzog das Land von Ost nach West und von den Bergen bis an das Meer. Er, der eigentlich Herrscher hätte sein können, wurde Sklave. Er, dem hätte gedient werden können, stellte sich in den Lohn eines anderen. Der Prinz lebte bei den Menschen, aber auch bei den Tieren, er war Einsiedler, aber auch Liebhaber schöner Frauen und verschleuderte seinen Samen. Sein Gewand aber war bald grau von Dreck.“
Yüo nickte wissend und war etwas errötet ob der Worte des Mönchs. Der aber fuhr fort:
„Du weißt sicher, wie viel Sinnlosigkeit, wie viel Leid, wie viel Gebrechlichkeit er selbst erlebt und gesehen hat - und den Tod dazu. Wie er darunter litt und voller Zweifel war. Der Prinz begann zu erkennen, dass er nur dann über andere herrschen könnte, wenn er zuerst von seinen eigenen Zweifeln befreit würde und eine Antwort für den Grund von Leid, Krankheit, Alter und Tod gefunden habe. Mit anderen Worten: wenn er also zunächst Herr über sich selbst geworden wäre. Du weißt vielleicht, dass er es in der Folge tatsächlich geschafft hat, alle und alles zu besiegen, ohne je das Schwert gezogen zu haben. Allein gegen sich selbst benutzte er es, um sich sein langes Haar, wie ich schon erwähnt habe, abzuschneiden.“
Auch die beiden Fremdländer baten noch um etwas Tee und lauschten gemeinsam mit dem jungen Bauern den Worten des Meisters, so als hörten sie das alles zum ersten Mal.
„Der Sohn des Königs ließ sich unterrichten in Weisheitslehren und Meditationen. Doch auch nach vielen Jahren war ihm aus der Ungewissheit heraus zu kommen keinerlei Hinweis gegeben. So begann er, sich in noch schärferer Askese zu üben und es kam soweit, dass er über eine lange Zeit täglich nur ein Reiskorn oder einen Samen des Sesam zu sich nahm. Alles, was er versuchte, auch das Anhalten des Atems, um die Wahrheit zu erkennen, war vergebens.“
Der Mönch nahm noch etwas von dem lauen Reis und fragte mit leicht hochgezogenen Augenbrauen:
„Langweilige ich dich ..?“
„Oh nein ...“, sagte Yüo rasch,
„... überhaupt nicht. Erzähle weiter. Ich möchte alles über den Prinzen hören.“
„Nun gut, wenn du es willst. Eines Tages kam der Prinz geschwächt und am Ende seiner Kräfte und Weisheiten an einen kleinen Fluss. Hier ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen und den Blick nach Osten unter einer Ziegenhirtenfeige nieder und war entschlossen, solange zu verweilen, bis er wüsste, wonach er suchte. Es vergingen viele Tage. Manche sagen, er verbrachte sogar einige Monate unter diesem Baum. Doch eines Morgens beim Anblick des Frühsternes durchfuhr ihn die Erkenntnis. Er sah den leuchtenden Punkt am Himmel das erste Mal ungetrübt, frei von Selbsttäuschung und ledig aller Sinnesträgheit. Dieses reine Sehen aller Dinge brachte ihm die Gewissheit.“
„Und wie gelangen wir an diesen Punkt unseres Lebens?“,
wollte der junge Bauer nun wissen.
„So höre weiter. Von dem Baum, unter dem er nun so lange gesessen hatte, begab er sich ein Stück des Weges und ließ sich unter einem anderen nieder. In dem Geäst dieses Baumes aber befand sich eine Schlange. Dort also nun versank der Prinz sieben Tage und sieben Nächte in vier Stufen der Meditation hinab, bis seine Seele ganz ruhte. Ja, bis er nur noch Seele war. Deshalb nun nannten ihn seine Freunde den Weltflüchtigen.“
„Und dann?“
„Dann durchlief er in den Stunden der siebenten Nacht im Inneren all seine früheren Leben. Von Geburt bis Tod und Wiedergeburt. Endlos durch alle Zeitalter. Mal war es ein schönes, mal war es ein grausames Leben. Mal war er reich, mal war er arm. Hier ein berühmter Herrscher, da ein Bettler. Einmal geachtet und voller Adel, dann wieder verpönt und verspottet. Mal war er Mensch, mal war er ein vierfüßiges Tier. Ein anderes Mal lebte er als Blume und dann wieder als Schmetterling. Je nachdem, wie er sich in dem vorherigen Leben als Mensch geführt und anderen gegenüber verhalten hatte.“
„Aber wie kann das sein? Ich mag so etwas kaum glauben.“
„Nun, das zu prüfen, werden wir dem Abt von Golmud diese Dinge ja vortragen. Das Leben ist voller Geheimnisse und auch wir glauben doch, dass unsere Seele unsterblich ist. Der Prinz von Sind jedenfalls hat den ewigen Kreislauf von Wiedergeburten endlich durchbrochen...“
„... so behauptet er“, unterbrach in Yüo. Luanxing lachte laut auf und verblüffte damit nicht nur seinen Gastgeber.
„Warum lachst du über mich?“
„Oh nein, ich lache nicht über dich, im Gegenteil! Ich bewundere nur deine Standfestigkeit und die Verteidigung des althergebrachten Glaubens. Ich habe es bereits vorhin, als wir über die Waschung im Fluss sprachen, bemerkt.“
Yüo hätte gerne etwas erwidert, doch er schwieg für diesen Moment. Stattdessen sprach der Luanxing.
„Aber natürlich hast du auch recht. Das, was ich dir berichtet hatte, ist das, was der Prinz den Überlieferungen nach erlebt hat. Nach dem Glauben seiner Jünger ist er in das ‚Tiefland der Liebe’ eingegangen. Nun höre, wie wir zu diesem Punkt gelangen können, denn dies ist der Weg zur Überwindung des Leides und zum Leben:
Erlange die rechte Erkenntnis; habe dazu die rechte Gesinnung; übe die rechte Rede und führe die rechte Tat aus; lebe von der rechten Arbeit und befleißige dich rechter Anstrengung; dazu habe noch die rechte Achtsamkeit und die rechte Sammlung.“
Der Mönch schwieg nun. Er spürte, wie sein Gegenüber Mühe hatte, alles das, was er gehört hatte, zu erfassen. Er wollte Yüo etwas Zeit verschaffen und mit einem Zeichen das gesprochene Wort unterstreichen. So beugte er sich leicht vor, legte seine Rechte auf die Brust und nickte Yüo aufmunternd zu.
In der Tat war es viel Neues, was hier zur Sprache gekommen war. Manches hatte Yüo schon von seinem Freund Chang gehört, oder dieser hatte das eine oder andere angedeutet. Yüo war beeindruckt und sein Herz hatte Mühe, alles aufzunehmen. Der achtfache Pfad, von dem er endlich gehört hatte, die vorherige Erleuchtung des Prinzen und sein Leben im Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt - das alles war doch recht erdrückend für ihn.
Aufgewühlte Seele (15)
Luanxing ließ seinen Blick von dem Yüo ab und lehnte sich zurück, um nun in einer der Ledertaschen etwas zu suchen. Er wurde bald fündig und es kam eine wunderbar bemalte Dizi zum Vorschein. Yüo nahm es verblüfft wahr, und die Höflichkeit gebot es, auf den Wink des Mönches einzugehen. Er legte daher seine Erlaubnis, spielen zu dürfen, in eine Frage:
„Du spielst die Dizi, oh Herr, mein Freund?“
„Oh ja – und wie“ hob nun Jiao an. Er tat es, bevor Luanxing auch nur die Möglichkeit hatte, zu antworten. Dann aber sagte der:
„Gerne möchte ich etwas zu deiner Erbauung auf der Dizi spielen. Doch bevor ich dies tue, muss ich dir doch noch erzählen, was geschah, nachdem der Erleuchtete sich vom zweiten Feigenbaum entfernen wollte. Ich weiß, dass deine Seele meinen Bericht nicht ganz fassen kann. Doch das Musikstück, das ich dir spielen möchte, gehört zu dieser Begebenheit.“
„Ja, erzähle. Was geschah?“ Yüo war ein wenig müde des Zuhörens. Doch er wollte höflich bleiben.
„Die Schlange,“ so begann nun der Mönch, „die sich im Laufe der Zeit um den Stamm gewunden, zuletzt aber sanft um den Körper des Prinzen gerollt hatte, legte am Morgen des siebenten Tages ihre Gestalt ab und verwandelte sich in einen Jüngling. Dieser spielte auf einer Flöte eine herrliche, in Tienchou bis dahin nie vernommene Melodie, die bis heute in den Klöstern dort am Flusse Sind von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird.“
Während seiner letzten Worte hatte der Luanxing die Dizi mit dem Saum seines Gewandes abgerieben, hatte sich vom Boden erhoben und war zwei Schritte über das Gepäck zurückgetreten. Bevor er nun das Instrument an seinen Mund führte, sprach er in feierlichem Ton so etwas wie eine Erklärung.
„Vernehme nun diese Weise – sie wird ‚Erleuchtung’ genannt, ein Lied aus Tienchou.“
Dann verzog er die Lippen leicht zu den Mundwinkeln hin, wie es auch Yüo tat, wenn er die Flöte spielte, und ließ das Instrument durch den Hauch seines Mundes erklingen. Es war eine wunderschöne Melodie. Die Tonfolgen mit den ausgeschmückten Wiederholungen, mit den Trillern und dem Stakkato, das Überblasen und die Triolen – das alles entlockte der Luanxing der Flöte. Sein Schüler hatte bei weitem nicht übertrieben. Sie hatten ihre Körper zur Seite gewandt und schauten ehrfürchtig in seine Richtung. Yüo aber saß ihm gegenüber und schaute auf zu ihm. Er hatte seine Fertigkeit auf der Flöte ja in der vergangenen Zeit verbessert. Doch bei weitem reichte sie nicht heran an das, was der Mönch zu bieten hatte. Eine unerhört schöne Weise nämlich vernahm er da! Sie erinnerte ein wenig an den Cantus des Bambusvogels. Yüo durchfluteten Wellen des Wohlseins. Er schien entrückt, war berauscht und doch war er ganz bei Sinnen. Der Mönch hatte derweilen seine Augen geschlossen und sein ganzer Körper war im Takt der Melodie in Bewegung. Leicht wippte er mit einem Fuß, ging etwas in die Knie, beugte seine Schultern nach rechts und links und schien so eins mit dem schönen Lied zu sein. Dann ließ der Luanxing die Abfolge der Töne langsam ausklingen, die Melodie verhallte und trieb vom Wind begleitet hinunter zum Fluss.
Der Priester setzte nun die Flöte ab, öffnete seine Augen, schritt nach vorne und nahm wieder am Feuer Platz. Er sah den Yüo an. Dieser schaute verdutzt.
„Was ist? Spiele ich nicht so, wie du es gewohnt bist, zu hören? Spiele ich schlecht?“, meinte er nun wieder ein wenig schelmisch.
„Oh nein, du spielst wunderbar, doch ...?“
„Ja?“
„Ich habe nie ein so anmutiges Flötenstück vernommen. Einzig das Lied des herrlichen Vogels, von dem ich euch berichtete, war so betörend schön, wie es dein Lied eben war. Ich bewundere dich. Es war köstlich, dir zuzuhören. Es war eine Botschaft an mein Herz.“
„So, wie es auch der schöne Vogel war?“
Yüo zögerte aus Überraschung kurz. “... Ja genau - aber wie kommst du darauf?“
„Nun, uns ist deine Begeisterung, als du von ihm berichtet hast, nicht verborgen geblieben.“
„Das stimmt, der gelbe Vogel hat es meinem Herzen angetan.“
Da sprach Luanxing: „Bedenke dabei aber auch, dass die Melodie, die ich gerade gespielt habe, aus Tienchou stammt. Könnte da nicht auch …“
„… du willst damit sagen und du meinst, auch der Bambusvogel kommt vielleicht von dort?“
„Möglich ist es doch, oder?“
„Ja - wenn ich es recht besehe...“ Yüo sprach die Worte gedehnt und dachte dabei auch an das, was ihm der Händler Mai über den Bambusvogel gesagt hatte und so er fuhr fort zu sprechen:
„Jetzt ahne ich, dass die Erscheinung des Vogels für mich eine noch tiefere Bedeutung haben könnte.“
„Nämlich - welche?“
„Dass ich mich der Lehre des Prinzen öffne?“
Die Antwort war mehr eine Frage. Yüo versuchte, in seinem Innern zwei Dinge in Zusammenhang zu bringen.
„Das mag schon sein,“ entgegnete ihm der Mönch und beugte sich bei diesen Worten noch einmal zu einer seiner Taschen, verstaute dort zunächst die Flöte und entnahm dem Beutel stattdessen ein kleines, in Pergament eingehülltes Päckchen. Als er das Papier entfernt hatte, kam eine wunderbar verzierte zylinderförmige Tasse zum Vorschein. Sie war aus Jade. Er reichte sie dem Guang zu seiner Rechten, der bisher die ganze Angelegenheit schweigsam betrachtet hatte und nun staunend zum Priester schaute. Der Alte aber strich das Pergament glatt, beugte sich vor und legte es dem Yüo in die Hände.
„Dort auf dem Papier sind die acht Zeichen des Heilspfades aufgezeichnet“, sprach der Mönch in das fragende Gesicht des Yüo.
„Du wirst vielleicht ein Leben dafür brauchen, sie wirklich verstehen und befolgen zu können. Die Erleuchtung wird kommen, aber den Zeitpunkt weiß niemand im Voraus. Auch ich“, er sah erst nach rechts und dann hinüber zur anderen Seite, „auch wir sind noch am Anfang des Weges und warten auf die rechte Offenbarung.“
Yüo legte den Bogen vor sich auf die Schenkel. Auf ihm waren die acht Speichen eines Rades aufgezeichnet. Um den Kreis herum verteilt standen – auf Höhe jeder einzelnen Unterteilung - die rechten Tugenden. Sie waren kunstvoll gezeichnet, wie es unter dem Gelben Volk üblich war. Doch unter ihnen befanden sich Zeichen, die er zuvor nie gesehen hatte. Waren es die Runzeln auf seiner Stirn oder der ungläubige Blick? Der Meister erkannte die stille Frage des Betrachters und ergriff noch einmal das Wort.
„Es ist die Art der Menschen in Tienchou zu schreiben, so wie ich es dir vorhin sagte und wie du siehst, habe ich bereits mit der Übersetzung begonnen.“
Ein schalkhaftes Schmunzeln glitt über sein Gesicht.
„Die Menschen am Flusse Sind halten nur die Laute ihrer Worte fest. Sie sagen aber nicht mehr aus, als gerade dieses. Es ist nicht die Schrift und auch nicht die Sprache, die dem Lauf der Natur und des Herzens folgt, und von den kosmischen Dingen redet. Bei all ihrer Klugheit befürchte ich, dass sie versuchen, so das Tao zu ergründen und es womöglich dabei zerstören. Aber den Sinn, welchen wir aussprechen könnten, ist ja das Tao nicht mehr, wie es Laozi einst gesagt hatte. Deshalb habe ich die Schrift unseres Reiches zum Verständnis hinzugefügt.“
Luanxing machte eine Pause und fuhr dann fort:
„Die Speichen zeigen den achtfachen Weg, von dem ich dir bereits erzählte. Sie können dir nur die ungefähre Richtung angeben, in die du dein Lebensqi bewegen solltest. Den rechten Weg dagegen musst du selbst finden und ... auch selbst gehen. Aber wie das Bild des Rades es schon sagt, bewegen sich alle diese Dinge im Kreise – sie wiederholen sich, sie bedingen sich, sie ergänzen sich und...“
Der Wandermönch blickte seinem Zuhörer tief in die Augen. Sein Blick war mild und doch ernst, als er weiter sprach.
„… bei allem, was du heute Neues gehört haben magst, mein Freund, gebe ich dir einen guten Rat: Sei, der du bist. Versuche nichts, was der Stimme deines Herzens widerspricht. Was du durch Worte anderer im Kopf aufbewahrt hast, wirst du auch schnell wieder vergessen. Nur an das, was du mit deinem Körper und deiner Seele festhalten kannst, an das wirst du dich dein Leben lang erinnern und nur von ihm lasse dich leiten.“
„Und was ist mit dieser schönen Jade?“, wagte Yüo nun zu fragen und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Guang. Der Priester antwortete nicht sogleich. Stumm bat er den jungen Begleiteter, ihm das Gefäß zu reichen. Guang tat dies und der Luanxing schaute wie abwesend auf seine Hand mit der Tasse, so als horche er in sich hinein. Das Gefäß schimmerte grünlich und war so lichtdurchlässig, dass der Betrachter meinte, seinen Inhalt erraten zu können. Der Deckel des Gefäßes war mit einem eleganten Knauf, der einen geöffneten Blütenkelch der Persimone darstellte, versehen. Nach einer kleinen Weile bemerkte der Mönch:
„Dies ist ein Geschenk aus Tienchou für meinen Herrn in Golmud. In ihm befindet sich ein wertvoller Gegenstand, von dem dir zu erzählen mir nicht erlaubt ist. Mag sein, dass du eines Tages davon hörst. Die Tasse selbst soll einen unerhörten Wert besitzen. Es wird gesagt, wer sie sein Eigen nennen darf, wird sein Lebensalter verdoppeln können. Ich glaube dies auch, denn dieser Stein ist eine Gabe der mächtigen Berge.“
Der Priester legte das Gefäß vorsichtig zurück in den Beutel und zog stattdessen ein kleines mit Hanfseil gebundenes Seidenbündel aus ihm hervor und sprach:
„In dieser Seide befindet sich Samen, den ich ebenfalls am Flusse Sind für den Allweisen in Golmud als Gabe erhielt. Wir wollen ihn dort in unserem Klostergarten aussäen, wenn es der Herr erlaubt, als Erinnerung und gleichfalls auch Fortführung unserer Reise.“
„Was genau für ein Same ist es, den du da bei dir trägst?“, wollte nun Yüo wissen. Des Mönchen Augen funkelten liebevoll, so als wollte er nicht nur gute Worte sprechen, sondern hätte bei sich auch einen Entschluss gefasst. Er sagte so:
„Nun – es ist Same von der jener Art des Feigenbaumes, von dem ich dir erzählte, dass der Prinz unter ihm im Angesicht des Morgensternes seine tiefe Erleuchtung hatte.“
Die beiden Jünger nickten beifällig und dem Yüo entfuhr ein hörbares „Oh“. Nun nickte auch der Mönch und begann an dem Hanfseil zu nesteln. In der Runde sprach niemand, bis die Seide nach einer Weile geöffnet war und nun wieder Luanxing das Wort führte.
„Wir wollen dir aus Dankbarkeit für deine Gastfreundschaft ein paar von den Samen hier lassen, damit du sie in deinem Garten - oder wo es dir beliebt - aussäen kannst.“
Er griff in das Säckchen und fingerte drei Samen heraus. Yüo schaute ungläubig. Doch der Mönch reichte ihm die Hand mit den Samen herüber und forderte die geöffnete Rechte. Yüo tat so und hielt nun die Kostbarkeit in seiner Hand.
„Danke, mein Herr, danke.“ Der Alte lächelte mild und vergebend. Dann sprach er :
„Wir müssen nun aufbrechen und unsere Reise fortsetzen. Nicht nur die Samen, sondern auch das Pergament mit dem achtfachen Pfad magst du behalten.“
„Aber,“ entgegnete Yüo, „brauchst du das Pergament nicht für deine Übersetzungen?“
Luanxing antwortete: „Keine Sorge, ich habe das alles in meinem Herzen.“
Die Worte aber von dem Aufbruch und der Fortsetzung der Reise kamen für alle unvermittelt. Die beiden Jünger schauten etwas ungläubig zu ihrem Meister auf und es war Yüo, der gerade etwas sagen wollte, als der Mönch schon fortfuhr:
„Vor Beginn der Dunkelheit wollen wir noch ein ordentliches Stück wandern und voran kommen.“
Yüo ergriff nun doch das Wort und sprach:
„Aber ihr könnt Morgen weiterziehen und bei mir nächtigen. Sonst müsst ihr euer Lager irgendwo im Walde aufschlagen - und der wilden Tiere und auch der rauen Gesellen sind viele.“
„Wir wissen durchaus deine Gastfreundschaft zu schätzen, wo de peng you, aber wir werden jetzt weiterziehen.“
Luanxing hatte diese Worte mit einer solchen Klarheit und Reinheit gesagt, dass Yüo nicht noch einmal wagte, sie für die Nacht zum Bleiben zu bewegen.
„Deine Hühnersuppe war schmackhaft, wie sie Himmelswesen nicht hätten besser machen können“, sprach der Tempelpriester, als sich die Gruppe zum Gehen erhob. „Du solltest die Rezeptur mit all den Zutaten auf Pergament festhalten“, ergänzte ihn nun auch der Guang. Der Ton seiner Stimme war angenehm und die Worte erbauten die Seele des Yüo.
„Wartet, ich gebe euch einen Tuscheblock und einen Pinsel aus Wolfshaar und etwas getrocknete Datteln und Pinienkerne als Wegzehrung mit.“
Yüo eilte, die drei Samenkerne in der Faust, zur Hütte. Luanxing wusste nur zu gut, was es bedeuten würde, wenn sie blieben. Eigentlich gebot es die Sitte, zu verweilen. Jedoch war er sich sicher, dass dann Vieles nur zerredet und dem Yüo die Zeit zum Nachdenken gestohlen würde. Dieser trat alsbald wieder zu ihnen ins Freie. Er hatte die Samen mit den Reisegaben getauscht.
„Bitte füllt eure Beutel noch mit frischem Wasser. Euren Besuch, das Lied, eure Worte, die Handschrift mit der Lehre des Prinzen und die Saat kann ich zwar damit nicht aufwiegen, aber...“
Der Tempelpriester unterbrach ihn:
„Wir danken dir dafür. Zai jian, wo de peng you – Auf ein Wiedersehen, mein Freund.“
Sie verbeugten sich dreimal vor ihrem Gastgeber, schulterten ihr Hab und Gut und stiegen auf dem gewundenen Pfad die Terrassen hinab zum Bach, um dann an ihm entlang weiter nach Osten ihrem fernen Ziele entgegen zu ziehen. Sie drehten sich noch einmal um und bedeuteten dem Yüo, dass sie später von dem Wasser nehmen würden. Yüo sah ihnen noch lange nach und selbst, als sie seinen Blicken entschwunden waren, stand er noch in Gedanken versunken. Die angefangene Arbeit am Vogelkäfig mochte er heute nicht mehr fortsetzen. Das, was er eben gehört und auch erlebt hatte, brachte sein Inneres Gleichgewicht ein wenig durcheinander. Die Harmonie war gestört.
„Ihr Ahnen“, murmelte er, „was hat das alles zu bedeuten?“
Die Fremden waren, so schnell wie sie gekommen waren, auch wieder gegangen. Das alles schien Yüo ein wenig unwirklich und ihm war in diesem Moment so, als stehe sein Leben an einem Wendepunkt: Das Lied und die Erscheinung des Bambusvogels, das wunderbare Flötenstück, die Lehre des Prinzen, erst verkündet durch den Freund Chang und nun durch den fremden Tempelpriester mit seinen beiden Begleitern, die Lehre des achtfachen Pfades und all das andere, was er gehört hatte, waren doch zuviel, um alles beim Alten zu lassen. Er war sich in diesem Augenblick sicher, dass das alles gewiss eine Botschaft an ihn war.
Auch wenn Yüo nicht alles durchschauen und sich erklären konnte, so wusste er doch, dass er an einem Wendepunkt seines Lebens angelangt war. Dort, wo sich zwei oder mehrere Wege vereinten, dort stand er nun und eine Entscheidung, welchen dieser Wege er einschlagen sollte, war vonnöten. Hatte nicht auch Luanxing von einer Neuerung der Zeit gesprochen? ‚Und sei es zunächst auch nur für mich ganz allein’, dachte er bei sich. Es war ihm, als läge eine Spanne vor ihm, die zu durchschreiten nicht ungefährlich, dafür aber lohnend sein könnte. Dem Sohn des Bauern Ku schien es unmöglich, diesen Tag vergessen zu machen, so als wäre dies alles nicht geschehen. Allein, der nächste Schritt für diese Reise war ihm heute nicht gegeben, und so entschloss er sich, unten am Fluss ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Das Wasser perlte von seinen Muskelsträngen ab und das nasse Haar glänzte in der Sonne. Nachdem er nackt dem Wasser entstiegen und wieder mit dem Schurz und dem Überwurf aus Leinen bekleidet war, nahm der junge Bauer den Pfad hinauf zur Hütte und begann vor dem Feuer mit den Körperübungen.
Das Lied der Fragen (16)
Die Reise war beschwerlich gewesen. Doch einmal in seinem Leben sollte jeder aus dem Gelben Volk, der dazu in der Lage war, die Stätte der Fünf Heiligen Berge besucht haben. Zwar war Luanxing schon einmal diesen Weg gegangen, doch wollte er, dass auch die beiden Fremdländer, waren sie zurück in ihre Heimat gekehrt, von diesem heiligen Ort berichten konnten.
Trotz ihrer Eile benötigten die drei Pilger, nachdem sie das Heiligtum besucht hatten, einen und einen halben Monat, bis sie Golmud erreichten. Ihre Ankunft eilte ihnen zum Tempel voraus und der Gong, sowie die Glocken des Klosters, begrüßten sie schon von weitem. Der Großmeister des Heiligtums war selbst an das Tor geeilt und hatte Luanxing umarmt. In der Frühe des nächsten Tages wollte er ihn und seine fremdländischen Begleiter ordentlich empfangen und sich berichten lassen.
Doch zunächst wurde den weit Gereisten nach ihrer Heimkehr ein erfrischendes Bad gewährt und sie erhielten neue Untergewänder. Das anschließende reichliche Mahl bestand aus Hirsefladen, Bambusspitzen, gebratenen Hasenpfoten und Gemüse, sowie aus mit Pflaumensaft vermischten frischem Quellwasser. Anschließend wurden noch getrocknete Aprikosen gereicht. Dabei wurde Luanxing ununterbrochen höflich und ehrerbietig mit mannigfachen Verbeugungen begrüßt und verehrt und seine beiden Begleiter standen dabei im Licht seiner Anerkennung. Der Lehrer ließ es lächelnd zu. Priester und Diener, Tempelschüler und Gäste, der Zeremonienmeister und der Astrologe - sie alle freuten sich aber auch auf eine musikalische Vorstellung des Luanxing, die er noch an diesem Abend mit der Dizi geben wollte. Sein Ruf als Künstler auf der fünflöcherigen Bambusflöte war ein außerordentlich guter. So ließ Luanxing sich zu diesem Anlass nach dem Mahle aus der Garderobe des Klosters einkleiden. Ihm wurde ein Turban aus dunklem Tuch umgelegt. Sein Obergewand war aus purpurner Seide und die Ärmel waren mit goldenen Aufschlägen verziert. Die Hose war aus ziegelrotem Stoff und um die Taille wurde ein Gürtel aus Schlangenhaut gebunden. Seine nackten Füße steckten in Sandalen aus ungefärbtem Rindsleder.
Luanxing wurde bei seinen Darbietungen von dem Tanzou unterstützt und begleitet. Dieser lebte seit vielen Jahren im Kloster und lehrte die Novizen die Musik. Auch er war kunstvoll gekleidet, doch sein Turban hatte die Farbe der Narzissen und er spielte die Fischtrommel oder eines der Zupfinstrumente oder den großen Gong zu den Tönen der Dizi. Beide Künstler untermalten die Musik mit rhythmischen Bewegungen des Oberkörpers und mit Tanzschritten. Manchmal sogar sang Tanzou und folgte bei der Melodie den Tönen des Windes. Die erstaunt hochgezogenen Augenbrauen Luanxings aber ließen die Zuhörer ahnen, dass diese Worte frei erfunden waren. Dann hatte Tanzou auch zur viersaitigen Yueqin gegriffen und entlockte ihr mehr als dreimal zwölf Töne. Musik ist Erziehung von innen. Ja, Musik war mehr als dieses, denn sie ist Abbild der Harmonie und der Ordnung für den Einzelnen, aber auch für das ganze Reich und darüber hinaus sogar für den Kosmos. Im Moment des Hörens war sie die Pforte zum Paradies, durch sie öffnete sich das Tor zum Kloster der Ewigkeit, sie war der Pfad in das Königreich von Shambhala und mit ihr betrat der Zuhörer die Fähre zu den drei Inseln der Unsterblichen. Aber es gab im Reich der Mitte noch etwas, was der Musik in diesen Dingen gleichstand und für den Moment Tür und Tor ins Reich der Seligkeit öffnete. Dieses aber war den Mönchen von Golmud untersagt und sie hatten es durch das Gelöbnis der Keuschheit besiegelt. Vielleicht deshalb lauschten sie mehr als inbrünstig den köstlichen Darbietungen der beiden Musiker.
War es ein Lied der Freude, dass die beiden spielten, dann kamen die Töne laut und zerstreuten sich. War die Melodie scharf und ersterbend, dann bedeutete sie Trauer des Künstlers. Zorn drückte sich durch grobe und grausame Laute aus, Liebe aber durch Milde und Zartheit. So spielten Luanxing und Tanzou das Lied vom ‚Igel und der Mimose’, den ‚Tanz der fünf Löwen’ und das ‚Liebeslied der Prinzessin Wencheng’; die Zuhörer waren ergriffen von der Melodie ‚Der Kranich und die Schlange’, vom ‚Mann des Grimms’ oder von dem ‚Lied der Fragen’. Sie lauschten der Weise vom ‚Schnee im Frühling’. Die Worte aber zu dem Lied der Fragen waren alt und nicht frei erfunden. Die Worte gingen so:
„Ich frage dich, oh Wind,
wo kommst du her?
‚Ich komme von denen, die dich lieben.’
Ich frage dich, oh Wind,
wo gehst du hin?
‚Ich gehe zu denen, die dich liebten.’
Ich frage dich, oh Wind,
sage mir, wer ich bin!
‚Du bist es, oh mein Sohn, der Geliebte.’“
Doch die geheimnisvolle Melodie aus Tienchou spielte der weitgereiste Mönch heute nicht. Gerne aber hätte die Versammlung noch mehr von diesem Künstler und seinem Begleiter gehört. Jedoch sollte der Abend nicht zu lang werden, denn der nächste Tag würde für alle sehr früh beginnen und niemand als die Neuankömmlinge hatten die Ruhe der Nacht mehr verdient.
Der Weg der Mitte (17)
Der große Lehrer saß auf einem breitflächigen Stuhl, der zu beiden Seiten offen und mit einer hohen Rückenlehne versehen war. Hinter diesem Sitz gab es eine gelb getünchte Wand, die mit Sprüchen des großen Meisters Kong versehen war. Die Schriftzeichen waren in Schwarz gehalten, außer an einer Stelle. Denn dort stand, kunstvoll mit roter Tusche geschrieben:
„Qiang zhong zi you qiang zhong shou – so mächtig du auch bist, immer gibt es einen, der noch mächtiger ist.“
Auch das Gewand des Da Daoshi war heute ein anderes als am Vortag. Schwarz war es, schwarz wie ein Tuscheblock und durchwoben mit goldenen Fäden. Zur rechten und zur linken Seite des Erhabenen standen auf rot bemalten Hockern Schalen, gefüllt mit Wasser auf denen Lotosblüten schwammen. Der Raum war mit einem quadratischen Teppich ausgelegt. Er war mit purpur- und blaugefärbter Wolle gewebt. Jenseits des Teppichs befand sich der Thron des Tempelherrn – diesseits aber auf grünen Kissen, die mit einem blauen Zierband versehen waren, saßen mit untergeschlagenen Beinen Luanxing und seine fremdländischen Begleiter. Die Wände rechts und links waren mit bunter Seide behangen und über ihnen, an der reich verzierten Decke, war der himmlische Drache von einem wohl begabten Künstler farbenreich und wie lebend festgehalten worden.
Nun sprach der Herr des Klosters ein Gebet:
„Sage mir, wer sind die Menschen dieses Landes?
Lehre mich, die Erinnerung zu pflegen.
Erzähle mir von der Größe dieses Volkes.
Erzähle es mir leise.
Wer erzählt mir von der Stille der Wüste
und von der Majestät der fünf Berge?
Und wer sagt mir, dass die Steine vom Berg Tai
immer noch geduldig fallen,
und das der Gelbe Fluss noch immer ruhig strömt.“
Es trat eine Pause ein und nach einer Weile hob der große Lehrmeister sein Haupt. Er räusperte sich als Zeichen des Beginns ihrer Unterredung.
„Nun, Luanxing, ich bin erfreut, dass du nach so langer Zeit wohlbehalten nach Golmud zurückgekehrt bist. Zwar sahen wir uns bereits gestern, aber da war nicht die Zeit zu reden.“
Der Angesprochene nickte seinem Herrn zu. Dieser fuhr mit seiner Rede fort.
„Wir hatten bereits beabsichtigt, eine Delegation von Priestern nach Westen zu senden, falls du nicht bis zur Sonnenwende erschienen wärest. Deine beiden Begleiter magst du nachher in deinem Bericht vorstellen, denn ohne sie zogest du aus, und auch sie sind sicher ein Teil deiner Geschichte.“
Er beugte seinen Oberkörper zu den Wandermönchen hin in die Richtung Jiaos und dann begrüßte er in gleicher Weise Guang. Dem Guang aber lächelte er zu. Luanxing wartete das Ende dieser Zeremonie ab und begann zu sprechen:
„Vater, bevor ich von unserer Reise berichte, möchte ich dir ein Geschenk aus jenem fernen Land darbringen. Darf ich zu dir treten, Laoshifu und es dir übergeben?“
Der Angesprochene nickte leicht und Luanxing begab sich zu seinem Herrn und sprach:
„Vater, du hattest schon von dem Prinzen gehört, wie er auf der Suche nach dem rechten Weg des Lebens war. Das war ja auch der Grund, warum du mich mit dem Gesandten des Kaisers nach Westen ziehen ließest, damit ich dir und euch im Kloster mehr berichten kann.“
Der Da Daoshi nickte, und schaute seinem Priester erwartungsvoll in die Augen.
„Nun, was der Prinz aber auch tat und versuchte und kostete – die Strasse zur wahren Erkenntnis blieb ihm versperrt.“
„Ja, aber dann hatte er doch eine große Erleuchtung“, ergänzte ihn der Großmeister und blickte ihn nun fragend an.
„Du willst mir sicher mehr darüber erzählen.“
„Gewiss, mein Herr, doch schau!“
Luanxing öffnete die Schnur, faltete die Seide auseinander und reichte sie seinem Herrn. Der Tempelherr schaute abwechselnd auf das Tuch in seinen Händen und auf den Sprecher. Dieser aber fragte, ob er sich wieder setzen dürfe und der Alte gewährte es ihm. Als Luanxing wieder Platz genommen hatte, berichtete er seinem Da Daoshi, was er auch schon jenem jungen Bauern auf dem nördlichen Hochland weitergegeben hatte und wie der Prinz den Weg der Erleuchtung fand. Er sprach von dem Übel des Leides und dass dieses überwunden werden muss. So sprach er zu seinem Herrn über die vier edlen Wahrheiten des Prinzen: Vom Leiden, von der Entstehung des Leides, von der Vernichtung des Leides und von dem achtfachen Pfad der zur Vernichtung des Leides führt:
„Und dies dort in deiner Hand sind Samen von jener Art des Feigenbaumes, wie ihn schon der Fürstensohn gesehen hat und unter welchem er bis zu seiner Erlösung verweilte.“
Der Alte hatte das Bündel mit den Samen zur rechten Seite auf den Hocker neben die Schale mit dem Lotuswasser gelegt. Er hörte, wie sein Mönch weiter von dem Prinzen erzählte.
„Wie du schon vernommen hattest, Großer Lehrer, lebte der Prinz wohlbehütet am Hofe seines Vaters. Aber erst in dem Alter, indem er schon selbst Vater eines Sohnes geworden war, gelang es ihm, mit seinem Diener heimlich den Königspalast zu verlassen. Der Sohn des Königs ist so das erste Mal dem Leid begegnet. Er sah einen alten Mann, der sich gebeugt und unter Schmerzen, gebrechlich und geknickt wie ein Giebeldach über die staubige Straße bewegte; er sah auch einen kranken Mann auf seinem Lager, mit schütterem Haar und abgebrochenen Zähnen, der sich unter Schmerzen wand und zu ersticken drohte; der Prinz erlebte mit, wie man einen Leichnam fort trug, aufgeschwemmt und blauschwarz gefärbt, den geliebten Mann und Vater einer großen Familie. Zuletzt traf er noch auf einen Asketen mit zerschundenem Körper.“
„Und bis zu diesen Tagen hatte er von all dem nichts gewusst? Er war also vermählt und ist in die Kammer eines Weibes eingetreten? Er war nicht enthaltsam?“
„Ja Herr, bis zu diesem Tage war er ein Unwissender der Welt gegenüber, nicht aber war er es den Weibern gegenüber – er war ganz und gar nicht keusch. Er hatte viele Frauen ausprobiert“, der Mönch sah für einen Moment beschämt zu Boden, „bis er sich für die eine entschieden hatte. Er ergötzte sich mit seinen Freunden bei Gelagen, war behangen mit Gold und Edelsteinen und wurde von Dienern umsorgt. So blieb ihm der Blick für das Leben außerhalb seiner heilen Welt versperrt.“
Luanxing ließ eine Pause folgen und fuhr dann fort:
„Enthaltsam wurde er erst später und wenn du willst, werde ich dir weiter erzählen.“
Der Klosterherr schenkte ihm einen freundlichen Blick.
„Ja, natürlich, berichte weiter.“
„Nun war es zu der damaligen Zeit in jenem Land üblich zu glauben, dass alles Unglück und alles Leid durch die Untaten aus diesem oder einem früheren Leben komme. Denn der Mensch lebt immer fort, sei es als Tier oder als Pflanze oder in einer anderen Person und, dass das Böse das Gute überwiege. In diesen unendlichen dämonischen Kreislauf von Geburt und Tod und wieder neuer Geburt, diesem Karma – wie sie es nennen - ist der Mensch auf ewig verdammt. Der Prinz aber konnte diese Kette Dank seiner Erleuchtung zerschlagen und in den ewigen Frieden eingehen. So wie meine beiden Begleiter und ja auch ich, sind viele von der Lehre des Prinzen begeistert. Im Lande Sind gibt es nur sehr wenige Menschen, die sich nicht zu den Anhängern des Fürstensohnes zählen. Auch ich, Vater, wie du es sicher schon gemerkt hast, bin ergriffen von seinen Ideen.“
„Ja, es ist zu spüren, denn wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über.“
„Auf keinen Fall aber“, fuhr der Wandermönch fort, „will ich die Ahnen erzürnen und mich aus dem Schutz der Götter begeben. Doch reizt es mich, den achtfachen Pfad zu beschreiten, um an der Erleuchtung teilhaben zu können.“
„Nun, mein Sohn, wir werden das alles in unseren Beratungen mit Sorgfalt behandeln und vielleicht auch eines der Orakel befragen.“
Gott und das Tao (18)
Der Tempelfürst deutete nun auf die jungen Fremdländer:
„Du wolltest mir noch von deinen Begleitern berichten.“
„Vater, ich war im Begriff, dem Treiben am großen Fluss Sind den Rücken zu kehren, als diese beiden jungen Männer zu mir herantraten. Ich war ihnen, so berichteten sie mir hernach, in einem Traum erschienen, und deshalb baten sie, sich meinen Wegen anschließen zu dürfen. Der Eine ist spielerisch und lächelt oft. Man meint, in seine Seele schauen zu können. Ich nannte ihn also später Guang. Der Andere kann gewand reden, auch da, wo er lieber schweigen sollte, und er mag kein Fleisch essen. Deshalb gab ich ihm den Namen Jiao.“
Liebevoll sah der Abt auf die beiden jungen Männer und sprach zu ihnen:
„Erzählt mir von dem Traum, um dessen Willen ihr dem Luanxing nach hier gefolgt seid.“
„Ja, mein Herr“, antwortete nun der Jüngere von beiden. Als er begonnen hatte zu sprechen, war er leicht errötet und er fuhr mit einer Frage fort:
„Darf ich von Anbeginn erzählen?“
„Aber ja doch, natürlich.“
„Nun denn. Vor fünf Sommern und Wintern kamen wir aus einer sehr fernen Gegend an den Fluss Sind. Wir stammen nicht aus dem Lande des Prinzen, sondern unsere Vorfahren und wir kommen vom Mittelländischen Meer am äußersten Bogen des Westens. In unserem Dorf traf eines Tages eine Karawane ein und wir lernten Kaufleute kennen, die Seide und Jade, Brokat und Reis und allerhand uns fremde Gewürze feilboten. Den Männern am Brunnen berichteten sie von den Gepflogenheiten, Heilkünsten und anderen geheimnisvollen Dingen im ‚Reich der Mitte’, wie euer Land bei uns genannt wird. Getrieben von unserer Neugierde gesellten wir uns zu der Versammlung und stellten viele Fragen. Wir baten unsere Eltern und Familien, den Händlern in ihre Heimat folgen zu dürfen, um für das Leben zu lernen, dann zurückzukehren und unserem Volk eure Weisheiten zu verkünden. Wir hatten aber keine Vorstellung davon, wie weit euer Reich von unserem Land entfernt liegt.“
„So?“
„Ja, wir meinten, es wäre vielleicht eine Reise von ein oder zwei Monaten.“
„Nun, das reicht gerade einmal, um von hier an das Gelbe Meer zu gelangen.“
Es war immer noch der Guang, der sprach.
„Die Karawane blieb drei Tage in unserer Gegend, und am Ende hatten wir unsere Eltern überzeugt, mitreisen zu dürfen. Sie gaben den Kamelreitern Reben von den besten unserer Weinstöcke mit, denn du musst wissen, der Wein vom Mittelländischen Meer ist wohl kaum zu übertreffen.“
Bei diesen Worten ging ein mildes Lächeln über das Gesicht des Abtes. Doch sagte er nichts, sondern hörte weiter zu, was der Guang zu sagen hatte.
„Auf dem Wege zu euch nun gelangten wir an den riesigen Fluss, den Sind, und hörten dort die Botschaft der Erleuchtung. Wir waren sehr ergriffen und baten daher, dass die Karawane ohne uns weiterziehe. Zwei Sommer schon war Tienchou unsere neue Bleibe geworden, als wir dann Luanxing trafen. Wir erkannten, dass er aus der Fremde kam, und sprachen ihn an - seine Aura war so wohltuend, dass wir ihn baten, bei ihm bleiben und mit ihm gehen zu dürfen. Nun, wo wir hier bei Euch im Kloster weilen, wissen wir auch, woher diese gute Kraft kommt.“
Luanxing hatte mit einer Handbewegung dem Lobpreis Einhalt geboten. Der Abt aber nickte zustimmend, ging auf das Gesagte ein und sprach nun an den Guang gerichtet:
„Seid ihr inzwischen von eurem alten Glauben abgefallen? Ihr habt doch sicher auch eure Ahnen, die ihr verehrt, dort - wir ihr sagt - im Land am äußersten Bogen des Westens?“
Der Guang aber sprach:
„Nein, mein Herr. Ganz gewiss haben wir unsere alten Überlieferungen nicht vergessen. Wir glauben immer noch an unseren Gott und ihn allein ehren wir.“
„Hmh, erzähle mir mehr von eurem Gott.“
„Ja Herr, das will ich gerne tun. Obwohl es von dem Höchsten heißt, dass er an Güte und Huld nicht zu übertreffen sei, ist der Weg zu ihm doch steinig und beschwerlich und er besteht aus Opfern Tag für Tag. Blutende Stiere und Schafe fordert er von den Reichen und Tauben von den Armen. Nur durch Befolgung vieler schwerer Regeln können wir ihm vielleicht wohl gefallen. Er gebot uns, die Feinde bis auf den letzten Mann zu vernichten, wenn sie nicht auch ihm zugeneigt sind. Deshalb hat es uns die Lehre des Prinzen so angetan, denn all das Schwere hat er nicht gepredigt.“
Jiao fügte etwas aufgebracht hinzu:
„Es plagt uns deshalb auch unser Gewissen, denn von unserem Gott heißt es, dass er furchtbar eifersüchtig sei.“
„Was für Regeln sind es, die euer Gott euch gegeben hat?“, wollte nun der Da Daoshi wissen. Nun sprach Jiao weiter, ohne seinen Bruder zuvor zu fragen:
„Natürlich sollen wir keinem anderen Gott dienen und wir sollen seinen Namen nicht missbrauchen. Wir sollen unsere Eltern ehren und niemanden dürfen wir töten und auch nicht begehren, was dem anderen eigen ist, weder Hab und Gut und auch nicht das Weib.“
Der hohe Lehrer hatte aufmerksam zugehört und fragte dann:
„Welches ist das höchste dieser Gebote?“
„Nun, Herr, eigentlich sind es zwei Gebote. Dass wir keinem anderen Gott als dem unserem dienen und dass wir niemanden töten.“
„Das ist interessant zu hören“,
meinte nun der Tempelfürst und fuhr fort,
„denn in unseren Überlieferungen steht an erster Stelle auch die Empörung gegen den Himmel. Der Mord allerdings wird an letzter Stelle der Gräueltaten genannt. Zuvor stehen noch die Verbote der Lästerung gegen die Weisen, Empörung gegen andere Menschen und Lästerung gegen die Ahnen und Geister.“
Es trat eine kurze Pause in die rege Unterhaltung ein. Dann meinte der Da Daoshi:
„Verzeiht mir, aber ist euch aufgefallen, dass zwar euer Gott das Töten unter Strafe stellt, aber er andererseits auch befiehlt zu töten. Ob er wohl gar Freude an vergossenem Blut hat?“
Guang und Jiao pressten ihre Lippen zusammen und hoben gleichzeitig ihre Schultern, so als hätten sie um ihres Gottes Willen ein schlechtes Gewissen und so als wollten sie ihn in Schutz nehmen. Jiao wollte nun antworten und Guang sah es in seinen Augenwinkeln. Er hob beschwörend die Hand, gebot dem Jiao Einhalt und ergriff stattdessen selbst das Wort:
„Herr, wenn ich ehrlich bin, muss ich dir sagen: Du hast Recht mit deinem Einwand. Gerade deshalb sind wir ja auch, wie ich es zuvor schon bemerkte, so von der Lehre des Prinzen ergriffen. Es ist ein Zwiespalt in uns, und Jiao und ich müssen wohl noch über Vieles nachdenken. Mag auch sein, wir haben unsere Überlieferungen hier und da missverstanden.“
Der Da Daoshi schaute mit offenem Gesicht in die Augen erst des Guang und dann des Jiao und meinte:
„Oh nein, ganz gewiss habt ihr eure Schriften nicht falsch verstanden. Dafür seid ihr viel zu ernsthaft und zu klug. Ich denke eher, dass weder eure Schriften, noch unsere Überlieferungen, noch die Lehren des Prinzen die ganze Wahrheit enthalten.“
Sowohl die beiden Fremdländer, als auch Luanxing nickten dem Alten zu, sagten aber nichts. Dieser nun richtete seinen Blick wieder auf Guang und stellte ihm diese Frage:
„Sag mir, wie ist der Name eures Gottes?“
„Unser Gott hat keinen Namen,“ antwortete dieser.
Erstaunt schauten sich Mönch und Abt an und dieser bemerkte: „Gerade jedoch sagtet ihr noch, dass der Name eures Gottes nicht missbraucht werden soll. Aber wenn er keinen Namen hat..?“
„Herr“, sagte nun Jiao, denn er fühlte sich angesprochen und sein Bruder ließ ihn auch gewähren, „unsere Schriftgelehrten legen es so aus, dass niemand Gott für sich beanspruchen soll, um ihn als Waffe gegen den anderen zu benutzen.“
Und Guang fügte hinzu:
„Unsere Alten lehren zudem, dass wir unseren Gott nicht mit einem Namen benennen sollen, da er sonst kein Gott wäre, sondern sterblich wie wir alle.“
Sprach Luanxing:
„Wir haben auf unserer langen Reise so manches Gespräch geführt und uns über dieses und jenes ausgetauscht. Ja, diese beiden jungen Männer haben mir erzählt, wie einzigartig sie ihren Gott sehen und wie eifersüchtig er über diesen seinen Anspruch wacht. Bei allem, oh Herr, klingt es, wie du dir denken kannst, ähnlich der Worte des alten Meisters Laozi - darf ich?“
Der Da Daoshi nickte zustimmend und Luanxing rezitierte:
„Das Tao, das mitgeteilt werden kann,
ist nicht das ewige Tao.
Der Name, der genannt werden kann,
ist nicht der ewige Name.
Das Unnennbare ist das ewig Wirkliche.“
„Das erinnert doch wiederum sehr an die Überlieferungen von unserem alten Vater Mo“, fand Guang zuerst Worte und fuhr fort:
„Ihm war unser Gott erschienen und er hatte ähnlich gesprochen, wie Luanxing es eben sagte.“
„Nämlich?“
„Nun Herr, als unsere Väter vor zehn mal zehn Dekaden von Jahren im Land der Pyramiden unter der Knechtschaft des dort herrschenden Königs lebten und Gott gedachte, sein Volk zu befreien, fragte ihn eines Tages Mo nach seinem Namen. Da soll der Höchste so geantwortet haben:
‚Ich bin, der ich bin,
ich bin der Seiende!’“
Der Abt nickte und sprach:
„Abgesehen davon, dass ich noch nie gehört habe, wie ein Mensch mit den Göttern Zwiesprache halten kann: In der Tat, es klingt ähnlich wie das Wort vom Tao. Aber darüber können wir uns später einmal unterhalten.“
Guang reizte es aber, ein wenig zu streiten, deshalb sprach er:
„Wenn nun aber das Tao und unser Gott Ähnlichkeiten aufweisen, wie passt dies mit der Tatsache zusammen, dass es viele Götter unter euch gibt und was ist mit dem Weg der Erleuchtung des Prinzen, der uns in das Paradies führen soll?“
„Ihr verehrt zudem noch die verstorbenen Ahnen und fragt das Orakel“, ergänzte ihn Jiao. Auch ihm war nach Streit.
Der Abt aber antwortete nicht und ließ die Worte der Ungestümen im Raum verhallen. Hatte er nicht gerade zuvor davon gesprochen, dass in keiner der ihnen bekannten Lehren die ganze Wahrheit liege, sondern dass sie in allen Schriften zu erkennen sei? Hatten nicht alle auf seine Worte hin zustimmend mit dem Kopf genickt? In die Stille hinein erröteten die beiden Jünger und es war Guang, der zuerst Worte fand. Etwas kleinlaut sprach er:
„Recht hast du, Herr, mit deinem Schweigen und ich muss deiner vorherigen Worte gedenken ... Die Frage ist in der Tat, was denn nun Wahrheit ist?“
Er streckte seine Arme mit den geöffneten Händen dem Abt entgegen und fuhr fort:
„Wir wissen es in der Tat auch nicht und sind deshalb unserem Traum gefolgt.“
Auch der Herr des Tempels zog seine Schultern leicht an und meinte:
„Allein der Himmel ist im Besitz der Wahrheit. Es ist aber die Aufgabe der Menschen, sie zu suchen.“
„Und sie dann auch zu finden?“, fragte nun Guang.
„Nun, ich bezweifle, dass wir sie jemals finden werden.“
„Warum?“, wollte jetzt Jiao wissen.
„Weil unser Herz uns dabei im Wege steht. Die Wege des Herzens sind unergründlich. Der alte Meister Kong meinte einmal, dass es im Herzen ist, wie im Innern eines Baumstammes: Myriaden von Fasern gibt es dort und ebenso viele Verzweigungen.“
Der Daoshi seufzte bei diesen Worten und meinte dann weiter:
„Aber solange wir auf der Suche nach der Wahrheit sind, befinden wir uns auf dem rechten Weg. Habt Acht vor denen die sagen, sie hätten die Wahrheit gefunden.“
Guang schien nachzudenken, als wollte er noch etwas dazu sagen. Doch er schwieg und nickte fast unmerklich mit dem Kopf. Es gab keinen weiteren Versuch eines Streitgespräches.
Der Abt wechselte das Thema und kam damit auf das Ursprüngliche zurück:
„Sagt mir endlich, wer von euch beiden hatte diesen Traum, von dem mein Priester sprach?“
„Mein Herr. Wir träumten es beide in derselben Nacht“, antwortete Jiao.
„Beide?“
Sprach Jiao so:
„Ja, jeder von uns hatte ein anderes Bild im Schlaf, aber beide Bilder haben das Eine gesagt. So träumte ich und sah ein großes Rad, in dem viele Speichen zusammengefügt waren. Mein Blick wurde auf die Mitte des Rades gelenkt, dort wo diese zusammenlaufen. Da begann der Reif, sich um die Leere in der Mitte zu drehen. Mein Bruder aber erblickte im Schlaf ein Gefäß aus Ton, das von außen reich verziert und mit schönen Farben versehen war. Doch sein Blick wurde auf das Innere des Kruges gelenkt und blieb dort haften. In jenem Moment ergoss sich ein wundervoll duftendes Öl in die Leere des Kruges“.
„Wir beide aber erblickten in unseren Träumen ein Gesicht, das dem deines Dieners sehr ähnelte“, sprach nun Guang, neigte seinen Kopf in Richtung des Mönches und fuhr fort, „und wir beide nahmen einen goldenen Vogel wahr, der nach Osten flog und der sich auf der
Mauer eines solchen Tempels, wie der eure einer ist, niederließ. Als wir deinem Boten dann in Wahrheit begegnet sind, baten wir, ihm
folgen zu dürfen. Jetzt wissen wir, dass unsere Entscheidung richtig war.“
Der Blick des Erhabenen glitt zwischen den beiden jungen Männern
prüfend hin und her.
„Ihr seid Brüder?“
„Nun“, antwortete der Guang, „meine Mutter und der Vater des Jiao kommen von dem gleichen Stamm, von denen es in unserem Volk zwölf gibt. Wir sind deshalb vom Ursprung her Anverwandte und nennen uns folglich Brüder. Als ich geboren wurde, war meine Mutter noch ein Mädchen und auch die Geschichte des Jiao ist wundersam. Wenn du erlaubst, werden wir dir später davon berichten.“
Der Angesprochene nickte und schaute sie wohlwollend an.
Verwandtschaft von Gut und Böse (19)
Der Priesterkönig griff zur Teeschale und nahm einen Schluck von dem lauen, erquickenden Getränk. Seine Gegenüber taten es ihm gleich. Dann sprach der Herr des Tempels:
„Ich will euch etwas erzählen. Es ist eine Geschichte, die ich in jungen Jahren erlebt habe. Luanxing kennt sie zwar bereits und er hat dazu auch ein Lied verfasst, das er uns gestern Abend dargeboten hat. Aber ich bin sicher, er hat nichts dagegen einzuwenden, wenn ich noch einmal davon berichte.“
Der Wandermönch schaute etwas verlegen, nickte aber zustimmend. Da begann der Da Daoshi zu erzählen:
„Meine Familie und ich wohnten im Blütenland und wir hatten einen wunderbaren Garten mit Sträuchern und Bäumen, mit Wiesen und bunten Blumen und mit einem Teich. Eines Tages beobachtete ich eine Schlange und einen Kranich. Beide waren miteinander im Streit. Der Vogel versuchte die Schlange mit kraftvollen Schnabelhieben zu bearbeiten und trat mit den Füßen nach ihr. Dabei schützte er sich selbst mit kreisenden Flügelbewegungen. Das Reptil jedoch wich all diesen Attacken geschickt aus. Es zog den Körper zurück, beugte ihn zur Seite, um dann wieder nach vorne zu schnellen. Jedes Mal schlug der Vogel ins Leere. So ging es eine ganze Weile und kein einziges Mal hatten sie einander berührt. Dann, nach einer ganzen Zeit, flog der Kranich ergeben und müde davon und die Schlange hatte gesiegt ohne dem Gegner eine Verletzung zugefügt und vor allem, ohne selbst Schaden genommen zu haben. Seit diesen Tagen versuche ich, es der Schlange gleich zu tun. Wer diese Kunst wirklich beherrscht, benötigt kein Schwert – der Gegner erledigt sich am Ende selbst. Besser aber noch ist es, einen Feind zu überzeugen, denn er wird dein Freund. Ein Gegner aber, den du besiegst, bleibt für immer dein Feind.“
Die beiden jungen Männer hatten andächtig den Worten gelauscht und waren ohne Zweifel tief beeindruckt. Guang lag noch eine Frage auf der Zunge. Der Weise spürte es und sprach an ihn gerichtet:
„Du wolltest noch etwas dazu bemerken, oder?“
„Ja Herr, ich frage mich..?“
„Ja?“
„Ich frage mich, warum du uns diese Geschichte eben erzählt hast.“
„Nun, - bitte seid nicht erbost und verletzt - weil ich bestürzt bin über die Blutrünstigkeit eures Gottes. Ich wollte euch nur vor Augen halten, dass es auch ohne Blutvergießen geht.“
Guang und Jiao nickten und zeigten durch ihre stille Geste Zustimmung und Verständnis.
„Ja Herr, du hast wohl recht und gerne würden wir diese Fertigkeit des ‚Siegens ohne zu kämpfen’ erlernen...“, meinte Guang und Jiao fügte hinzu:
„Die Schlange scheint ein kluges Tier zu sein.“
„Ja, das ist sie wohl.“
„In den Erzählungen unserer Urzeit erscheint sie allerdings auch als böse und als eine Verführerin“, sagte mit Nachdruck Guang.
„In unserer Sprache bedeutet das Wort für Schlange auch gleichzeitig ‚wahrsagen’“, belehrte dann noch Jiao die Anwesenden.
Der Da Daoshi schmunzelte leicht und sprach: „Nun, wie ihr selbst erkennen müsst, ist dieses Reptil ein höchst interessantes Wesen und ein Abbild von so manch gegensätzlichen Dingen.“
„Ja, das ist sie wohl.“
Es war wieder Guang, der gesprochen hatte und er sagte diese Worte sehr nachdenklich. Er wurde nämlich an eine der überlieferten Erzählungen erinnert, in der die Schlange Verderben brachte, aber auch Bürge für die Genesung seines alten Bundesvolkes gewesen war. Die Väter hatten in Urzeiten auf der Wanderung durch die Wüste gegen Gott und seinen Gesandten, den alten Mo, gemurrt und daraufhin hatten sie Böses erlebt. Sie wurden von feurigen Schlangen gebissen und viele starben an ihrem Gift. Doch Gott sprach zu Mo und sagte ihm, er solle eine Schlange aus Bronze gießen und sie an einen Pfahl heften. Jeder, der von einer dieser feurigen Nattern gebissen wurde, aber auf ihr gegossenes Ebenbild schaute, wurde gerettet und musste nicht sterben.
„Gut und Böse liegen auch eng beieinander,“ sprach der Herr, unterbrach damit Guangs Gedanken und fuhr fort:.
„Das Gift einer Schlange kann, verdünnt zubereitet, auch als Medizin verwendet werden. So jedenfalls tun es unsere Ärzte. Doch lasst uns für heute dieses Thema beenden und lasst uns zum Ende kommen. Ich werde euch in die gute Kampfart der Schlange einweisen lassen. Ich denke doch, dass ihr ein wenig bleiben werdet.“
„Erhabener“, sprach nun wiederum Guang und schüttelte innerlich seine sinnenden Gedanken ab, „gerne würde ich von dem rezitieren, was in unseren heiligen Rollen geschrieben steht. Es ist auch eine Art von Gebet, wie du es am Anfang gesprochen hast. Würdest du es mir erlauben?“
Gespannt wie die Sehne eines Kaiserbogens mit halboffenem Mund sah Jiao vorgebeugt zuerst zu seinem Bruder hinüber und dann zu dem Herrn des Klosters. Dieser sagte kein Wort, lächelte auch nicht, sondern machte nur eine kurze Handbewegung der Zustimmung. Es war vielleicht unhöflich gewesen, in dieser Form das Wort zum Schluss zu ergreifen, aber Guang hatte nicht anders gekonnt und vielleicht war es noch unhöflicher aufzustehen, aber Guang tat es. Er zog ein schwarzes Seidentuch aus seinem Gewand und legte es sich über das Haupthaar. Jiao tat es ihm gleich. Priester und Hausherr wechselten einen kurzen Blick miteinander und erhoben sich ebenfalls. Dann sprach der Guang mit geneigtem Haupt und mit ehrfurchtsvoller Stimme diese Worte:
„Du, der du der hellste Stern am Himmel bist,
du schaust in mein Inneres;
alles weißt du über mich, sogar meine tiefsten Absichten,
nichts ist dir bei mir verborgen.
Kein Vorhang, kein Schleier kann dich hindern.
Alle Wege, die ich gehe,
du bist sie zuvor gegangen;
alle Worte, die ich spreche,
zuvor hast du sie schon gehört.
Wohin soll ich noch gehen,
an welchem fernen Ort Zuflucht nehmen?
Wartest du dort nicht schon auf mich?
Schaue ich nicht auch dort in deine Augen?
Wenn ich zum Himmel hinaufsteigen würde,
oder mein Weg mich zu den Toten führte;
ja, hätte ich Flügel und könnte zum fernsten aller Meere fliegen,
dort wo die Sonne ihren Tag beginnt,
auch dort würde deine offene Hand auf mich warten.“
Als der junge Fremdländer geendet hatte, blieb es für viele Herzschläge so still, wie es auch in der tiefsten und dunkelsten Nacht nicht lautloser hätte sein können. Guang traute sich nicht, aufzuschauen und war darauf gefasst, aufgrund der Worte, die er gesprochen hatte und der Geste des Aufstehens Schelte zu empfangen. Doch der Tempelvater sagte erlösend, sanft und leise:
„Obwohl ihr unsere Sprache noch nicht perfekt beherrscht, habe ich selten, ja sehr selten so schöne Silben vernommen. Ihr müsst mir mehr von eurem Gott erzählen, denn wie passen diese Worte zu seiner Härte? Wer ist euer Gott denn nun – will er die Einhaltung von Vorschriften oder will er das grenzenlose Vertrauen?“
Guang und Jiao zuckten leicht mit den Schultern und letzterer meinte:
„Dies herauszufinden, haben wir uns ja auf den Weg gemacht. Mag sein, wir finden die Antwort bei Euch.“
Der Erhabene schien tief berührt, aber auch erstaunt über den Mut des Guang. Die Rede am Schluss noch einmal aufzunehmen, ohne seine Zustimmung aufzustehen und ein Gebet zu sprechen: das hatte bisher nie jemand gewagt. Er erkannte jedoch dahinter nicht den Leichtsinn eines jungen Menschen, sondern vielmehr die Ehrfurcht vor dessen eigenem Gott. So gebot nun der Da Daoshi, sich wieder setzen zu sollen - um des Ausgleichs willen von Nehmen und Geben, Standhalten und Nachgeben, Zulassen und Gebieten. Nun hatte auch Luanxing den Mut und bat noch um das Wort. Der Abt gewährte ihm diese Bitte und so sprach der Mönch:
„Wir wollen nicht versäumen, dir noch von jener Begegnung mit dem jungen Bauern im Hochland der Rong-Steppe zu berichten.“
„Ja, erzähle. Was hat es mit dem Bauern so Wichtiges auf sich?“
Der Mönch begann nun von dem Yüo, dem angefangenen Käfig, dem Bambusvogel und der Melodie aus Tienchou zu erzählen. Die beiden jungen Männer lauschten gespannt, als hörten sie zum ersten Mal davon.
Zerbrochene Freundschaft (20)
Während der nächsten Tage, an denen Yüo die Erde umpflügte und den Kot der Ziegen unter den Boden brachte, hatte er immer wieder in sich hineingehorcht. In gebückter Haltung und mit freiem Oberkörper riss er die Ackerkrume auf, zupfte mit der bloßen Hand das überflüssige und schädliche Kraut heraus und warf es auf den Haufen, der mehr und mehr wuchs. Ebenso griff er nach Steinen und nach altem Wurzelwerk und tat beides zur Seite. Es war sehr wohltuend, im Boden zu graben, den rotgelben Humus zu riechen und die Herkunft des Menschen in ihrer Ursprünglichkeit zu spüren. Aus dieser Scholle kam jeder und Yüo wusste, dass der Erdbewohner zu ihr zurückkehren würde. Doch für ihn, so hoffte er, würde dies nicht gelten, oder zumindest noch in sehr weiter Ferne liegen. Beim morgendlichen Bad im kalten Wasser des Flüsschens, beim Einnehmen des Mahles, beim Teetrinken und beim Melken der Tiere, beim Zubereiten seiner Mahlzeiten und vor allem beim Kochen seiner Hühnersuppe, in der Ruhe des Abends und auf dem nächtlichen Lager, stellte der Bewohner des Hochlandes sich dieselbe Frage: „Was willst du, mein Herz – was ist deine Absicht, oh du meine Seele?“ Die Sehnsucht nach dem Bambusvogel war groß. Wo war er geblieben? Wo würde er jetzt sein? Wäre er doch in seiner Herrlichkeit hier bei ihm!
Manchmal wollte Yüo Angst und ein bedrückendes Pflichtgefühl befallen, weil er sich in dieser Angelegenheit nicht an die Ahnen wandte. Auch die Rede Luanxings von der Muschel, dem Mohn und der Prinzessin, die allesamt den Glanz und die Herrlichkeit verlieren können, vermochte ihm nicht zu helfen. Oft stellte er sich vor, der Mönch in seiner gewaltigen Erscheinung wäre ein Teil von ihm, und er würde ihn fragen, was zu tun sei. Yüo stellte sich auch vor, wie wohl dieser mit der Herausforderung umgehen würde. Das half ihm schon ein wenig. Er studierte nach getaner Arbeit ebenfalls das Blatt Papier, auf dem der achtfache Pfad aufgezeichnet war. Aber auch das tat er nur mit mäßigem Erfolg. Der Wunsch, den Bambusvogel bei sich zu haben war allgegenwärtig und das Leben hier auf dem Hochland schien dem Yüo mehr und mehr öde und auch sinnlos ohne ihn. Aber er wusste, dass er allein eine Entscheidung zu treffen hatte und dass es richtig war, sich zu diesem Zeitpunkt allein mit seinem Herzen zu unterhalten und sich nicht mit Fleisch und Blut zu beraten.
Eines Mittags nun, beim Ruhen im Schatten des Vordaches, fasste Yüo den Entschluss, die angefangene Arbeit am Vogelkäfig fortzusetzen. „Sei, der du bist.“ Ja, er wollte diesen Sänger für immer bei sich haben, und er wollte die Schönheit des Niau-Zhuzi allzeit betrachten können. Sein Ziel war es, diesen Vogel zu fangen. Er beabsichtigte, diese Kreatur für immer festzuhalten, er wollte den Bambussänger für sich allein. Dann hätte das Sein in dieser Gegend, dann hätte das Leben auf dieser Erde wieder einen Sinn. Wenn er doch bloß bald zu ihm käme! Wenn nicht, dann würde er sich auf die Suche nach ihm machen, dann würde er durch die Wälder und Steppen und Gegenden streichen, bis er ihn vielleicht fände. Vorbei war es mit dem Wu-Wei, vorbei war es mit dem Segel setzen und vorbei war es mit dem Wirken des Schicksals. Er musste handeln, er musste Hand an das Ruder legen, er musste seine Zukunft bestimmen. Yüo erkannte wohl, wie gefährlich jede Entscheidung war. Er brauchte am Anfang nur um ein Haar die rechte Richtung zu verfehlen und am Ende könnte eine Abirrung von tausend Li daraus werden. Aber keine Entscheidung zu treffen war nach seinem Empfinden noch gefährlicher.
Yüo nahm sich nach dem Abendmahl der Angelegenheit, den Vogelkäfig weiterzubauen, an. Er suchte aus dem Stapel die passenden Bambusstäbe, befeuchtete sie, säuberte sie dann mit dem Rest eines alten Gewandes, achtete dabei auf die Abstände und flocht sie mit dem nassen Hanf zusammen. Dort, wo es notwendig war, verarbeitete Yüo auch die ebenen Hölzer des Waldes, die er einst an dem Tage, als er Chang Tou-fa in seine Liebe zu dem Niau-Zhuzi eingeweiht hatte, aus dem Wald mitgebracht hatte. Er tat dies alles, obwohl es ihm an Sicherheit mangelte, das Gitter jemals gebrauchen zu können.
Es war die Zeit der Kirschblüte, während die Knospen der Pflaumen schon vor drei Wochen aufgesprungen waren. Seit dem Besuch der drei Wanderer aus Tienchou war aber schon eine ganze Zeit vergangen. Für einige Stunden, so schien es dem Bauern, hatte die Sonne jetzt bereits nahezu die Kraft des Sommers. Gewiss lag der Grund dafür auch in dem einsetzenden Südwind. Trotz der anstrengenden Arbeit an den Terrassen und im Steingarten, dem Versorgen des Viehs und dem Zubereiten der Mahlzeiten, mühte sich Yüo in den Abendstunden, den Käfig zu flechten. Als er nach einigen Tagen fertig war, fand das Vogelbauer unter den Bäumen nahe des Ginsterbusches und neben dem alten Holzfass seinen Platz. Der Käfig maß zwei auf einen Schritt und er war damit fast mannshoch. In dem vergangenen Zeitabschnitt, in den Monaten zuvor, hatte Yüo versucht, die Melodie aus Tienchou, so wie sie der Mönch Luanxing gespielt hatte, auf der Flöte zu verbessern. Nun, nachdem der Käfig fertig gestellt war, verbrachte er an einem der folgenden Abende, kurz vor Beginn der Tage des Sommers, die Zeit im Steingarten. Inmitten der Kirschbäume und der Trauerweiden, der Knospen treibenden Rosen und aufschießenden Forsythien, des wohlriechenden Jasmins und der Chrysanthemen spielte er auf seinem Instrument. Die Töne der Dizi waren lieblich, und so mancher gefiederte Geselle ließ sich in der Nähe nieder und versuchte in das Lied mit einzustimmen. Als der Musiker nach einer Weile des Spielens die Flöte absetzte, war ihm, als wenn ihr Echo aus seinem Rücken vom Tale her zu hören war. Dies aber konnte unmöglich sein, denn Widerhall gibt es nur inmitten der Berge oder aus der Richtung des Waldes. War es der Südwind, der die verklungenen Töne zurückbrachte? Erstaunt sah er auf die Dizi in seiner Linken. Yüo wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, um gewiss zu sein, dass nicht er es war, der spielte, und wand seinen Kopf nach hinten.
Sein Herz machte einen Sprung und es war, als wollte das Qi von oben bis unten seinen Körper verlassen, um dann - aus dem Boden schießend - erneut durch Beine, Bauch und Brust bis unter den Schopf zu stoßen. Sein ganzer Körper war wie von tausenden von Nadeln traktiert und in seiner Seele wurde es dunkel und kalt, wenngleich der Körper glühte. Auf einem der mit weißen Blüten übersäten Zweige saß im Schatten des Abends der so lang ersehnte Sänger mit seinem bambusfarbigen Gefieder. Es schien für einen kurzen Moment der Puls des Kosmos auszusetzen und die Welt um Yüo her zu schweigen. Er sah, wie der Vogel den Kopf zur Seite legte und wie er den Schnabel öffnete, hörte aber nun keinen Ton mehr.
Es war aber nicht eigentlich die Betrachtung des Geschöpfes, die ihn erstarren ließ. Wäre nur er es gewesen, er, der ersehnte Niau-Zhuzi, den er ganz in seiner Nähe sah, gewiss wäre bei aller Freude, das Qi doch im Gleichklang geblieben und der Anblick des Vogels hätte sich in die Harmonie des Gartens und seiner Seele eingefügt. Aber unter dem Kirschbaum stand ein Mann, dessen Gesicht er nur allzu gut kannte. Es war sein bester Freund Chang Tou-fa, der ihn zuvor oft hier besucht und der sich in der letzten Zeit mehrfach nach dem Vogel erkundigt hatte. Seine Worte bekamen auf einmal neue Bedeutung. Der Traum vom grünen Hain zog wie ein schneller Schatten an ihm vorbei und er konnte ihn plötzlich in einem neuen Lichte sehen. Ja, er hatte sie beide im Traum gesehen und nun meinte er, diese Erscheinung deuten zu können.
Welch ein Bild bot sich den Göttern und den Hauchseelen! Sehnsucht und Erfüllung, Hoffnung und Wirklichkeit, Traum und Wachsein, Freundschaft und Schmerz, Wahrheit und Ungewissheit, Harmonie und Zerstörung hießen die Werkzeuge, die ihre Pinselstriche hier gezogen hatten. Für den jungen Bauern lag die Vermutung sehr nahe, dass das Erscheinen des Bambusvogels und das seines Freundes zusammengehörten. Konnte das sein? War das möglich? Oder unterlag Yüo einer Täuschung der Gefühle? Denn wenn es sich so verhielte, würde sein Freund sicher nicht ins Hochland gekommen sein, um ihn zu verletzen. Wusste er doch durch die vielen Erzählungen, was der Bambussänger ihm bedeutete. Es musste ein Zufall sein oder eine böse Illusion, eine Wahnvorstellung oder eben doch die Manifestierung seines Traumes vom Hain. Wie es sich auch verhalten mochte, es war nur für einen Wimperschlag lang und für ein kurzes und lautloses Trällern gewesen. Doch ein zeitloser Augenblick war dieser Moment. Das Gehör kehrte zurück, der Puls schlug weiter und der Rhythmus des Kosmos setzte wieder ein. Der Gesang des Vogels drang wieder zu ihm vor.
Die Erstarrtheit löste sich und Mund und Augen Yüos begannen zu lächeln. Das gelbe Volk war schon immer verlogen gewesen und für einen neu Geborenen war es schwer, diese Kerbe im von den Eltern und Voreltern geerbten Qi auszugleichen. Vor allem dann, wenn die Ehre angegriffen wurde, brachen diese alten, tief eingegrabenen Strukturen durch. Lieber täuschen als das Gesicht zu verlieren. Besser heucheln als sich etwas zu verscherzen. Besser blenden als sich durchschauen zu lassen.
Das Gesicht wahren, aber dafür heucheln.
Als Yüo sich vom Stein erhob und auch Chang Tou-fa einen Schritt auf ihn zuging, verstummte der Vogel und flog davon. Doch nicht ganz. Der Niau-Zhuzi ließ sich jenseits des Feuers auf dem Ast eines Pflaumenbaumes nieder und begann, sein Federkleid zu putzen. Die Flöte aber lag jetzt unbeachtet zwischen Grasbüscheln und kleinen Steinen. Yüo aber trat durch das Gartentor und sprach mit verstellter Miene:
„Mein Freund, sei herzlich willkommen. Hast du heute schon eine Mahlzeit zu dir genommen? Du warst lange nicht bei mir und nun kommst du in Begleitung dieses Vogels?“
Yüo deutete mit der Rechten hinüber auf den Pflaumenbaum und konnte dabei seine Erregtheit nicht ganz verbergen.
„Oder war es der Zufall, der euch beide in dieser Weise zu mir brachte? Kamst du von Osten und der Niau-Zhuzi von Westen?“, meinte er bissig, jedoch verbeugten sie sich wie gewohnt voreinander, legten dabei die Rechte an die Stirn und Chang Tou-fa sprach:
„Mein Lieber, danke für deine Begrüßung. Ich bin froh, bei dir zu sein, habe ich doch viel zu erzählen.“
„Das denke ich mir“, meinte Yüo nun mit einem etwas spöttischen Unterton, und der Chang fuhr mit verunsicherter Stimme fort:
„Denn es ist leider nicht von ungefähr, dass der Bambussänger und ich zusammen gekommen sind und es war bedauerlicherweise kein Zufall.“
Das gemeinsame Mahl am Feuer war für den Sohn des Bauern Ku an jenem Abend mehr als eine Qual. Den Reis mit dem aufgelegten geschmorten Gemüse, konnte er nicht genießen. In seinen Beinen, wie auch in seinem Innern war ein Zittern und es lag eine unglaubliche Schwere auf ihm. Seine Lunge glühte und der Magen drückte nach oben. Es war kein bunter Falter, der in ihm flatterte, es war ein Raubtier, das hinaus wollte. In Yüo begann sich ein Vorhang zuzuziehen. Chang bemerkte es wohl. Nach dem Mahle an der Kochstelle begaben sich die beiden zurück in den Steingarten und setzten sich auf einen weißen Stein. Sie tranken kühlen, ungegorenen Traubensaft und schwiegen sich an. Yüo hatte sich das Wiedersehen mit dem Freund gewiss anders vorgestellt. Er wollte Chang von der Begegnung mit dem Mönch und seinen Begleitern berichten und ihn mit seinem Wissen von dem achtfachen Pfad des Prinzen überraschen. Wochenlang hatte er sich darauf gefreut, endlich auch einmal mehr zu wissen, als der Fischer vom Schilfsee. Endlich auch mal einen Schritt weiter sein, als der Andere. Aber darüber würde er heute nicht sprechen. Denn alles dies war nun gar nicht wichtig, aber bisher hatte keiner zur Sprache gebracht, was wirklich und zum Greifen nahe in der Luft lag. Schon bei der Schale Reis hatte der Gastgeber nach dem gemeinsamen Kommen von Freund und Bambusvogel gefragt. Doch Chang bedeutete ihm, dass er nach dem Mahle in aller Ruhe darüber reden werde, da diese Angelegenheit doch von Bedeutung sei. Aber auch nach dem Leeren der Schale und dem Verzehr der Beigaben schwieg der Gast. Bis dann Yüo ihn im Garten aufforderte, endlich zu reden:
„Bitte, lieber Freund, missbrauche meine Gastfreundschaft nicht und schweige deshalb nicht länger.“
Das waren ungewohnte und deutliche Worte, und so begann Tou-fa jetzt zu erzählen, währenddessen Yüo aufgestanden war und ein paar Schritte unruhig auf und ab lief.
„Es war in den letzten Tagen des Winters, als ich Besuch von drei Reisenden bekam. Es waren ein Priester und zwei junge, fremdartige Männer, die an meiner Fischerhütte rasteten. Der Lehrer machte auf mich einen sehr seelenstarken und beherrschten Eindruck. Was mich aber verwirrte war, dass sie ein lebendes Wesen mit sich brachten. Zunächst konnte ich nicht feststellen, was für ein Tier es war. Doch dann erkannte ich, dass es der Bambusvogel war. Sie hatten ihn in ein Tuch eingewickelt, das einer der jungen Männer trug. Es waren noch dunkle Spuren von Blut an dem Stoff zu sehen.“
Yüo hatte eine einhaltende Handbewegung gemacht, blieb stehen und rief erstaunt:
„Ein Priester mit zwei Begleitern? Es waren wohl diejenigen, die auch bei mir zu Gast waren!“
„Ja, sie berichteten mir später von ihrem Aufenthalt bei dir und...“
„...Und es war mein geliebter Niau-Zhuzi den sie bei sich trugen!“, schrie Yüo entsetzt, und seine Stimme überschlug sich dabei.
„Ja doch, ich sagte es bereits. Es war der Bambusvogel.“
Chang Tou-fa versuchte, es mit ruhiger Stimme zu sagen und war bemüht, mit seinen Händen das entstandene Energiefeld zu Boden zu drücken.
„Lasse mich bitte weiter erzählen.“
„Ja“, sagte Yüo immer noch bebend, „erzähle nur weiter.“ Wieder begann er hin und her zu laufen und seine Stimme klang auch jetzt ein wenig höhnisch, doch verletzt noch dazu. Chang Tou-fa bemerkte es wohl und seine Hoffnung, es würde trotz der besonderen Lage eine gute Begegnung mit seinem Freund werden, schwand dahin. Seine Stimme und sein Gemüt senkten sich.
„Die Reisenden berichteten mir, wie sie beim Überqueren des Fasanengebirges auf die Hütte eines groben Einsiedlers gestoßen waren. Dieser Mensch hatte es darauf abgesehen, aus den Flügelknochen von Schwänen, Kranichen und anderer wunderbarer Vögel, Flöten herzustellen und diese an Interessierte zu verkaufen oder selbst sich damit seine Zeit zu vertreiben und die Umwelt zu betören. Die armen Kreaturen aber hielt er in kleinen Höhlen gefangen.“
„Und der Niau-Zhuzi war in einer dieser Stallungen?“,
fuhr es Yüo fragend mit Schaudern heraus. „Sag, war es so?“, schrie er nochmals ohne die Antwort abzuwarten.
„Und wie kam es dazu, dass die Drei den Niau-Zhuzi entdeckt hatten?“
Viele Fragen waren es, die Yüo hatte und er tat nun einige hastige Schritte auf das Gartentor zu und kehrte wieder zurück. Doch sein Freund bat ihn, sich wieder zu setzen und in Ruhe zuzuhören. Allein, er konnte es nicht.
„Ja, dein Vogel war dort bei dem Einsiedler in Gefangenschaft. Aber er war nicht alleine in seinem Schlag. Wie sich hernach herausstellte, hausten mit ihm dort in der Enge noch weitere Vögel und sie hatten sich gegenseitig Verletzungen zugefügt. Nach einem kurzen Gedankenaustausch mit dem Eremiten über den Weg durch das Gebirge wollten die Wanderer auch schon weiterziehen. Da hörten sie im letzten Moment einen kläglichen Gesang, der sie an eine Flötenmelodie aus Tienchou erinnerte. Sie erzählten mir von der Weise, die sie aus fernem Lande mitgebracht und dir vorgespielt hatten.“
An dieser Stelle nickte der Zuhörer wissend, aber auch abwesend. „Bei dem Geti erkundigten sie sich nach dem Geschöpf, dessen Stimme sie gerade gehört hatten. Als sie bemerkten, dass es jener Bambussänger sein musste, von dem du ihnen berichtet hattest, versuchten sie ihn freizukaufen.“
„Und?“
Yüo war ungeduldig und Gelassenheit war ihm fern.
„Jedoch die Verhandlung gestaltete sich als sehr schwierig. Der Einsiedler war hart und wollte seinen Fang nicht hergeben. Der Priester bot ihm Perlen, Ketten von Muscheln, Seide und andere wertvolle Dinge. Doch er verschloss sein Ohr. Stattdessen bot der grobe Mann den Mönchen eine Eule, eine Taube, einen Habicht und einen Adler an. Doch den Niau-Zhuzi wollte er für keinen Preis hergeben. Er sprach von der Anmut und Sinnlichkeit dieses Geschöpfes und dass seine Opferung und eine Flöte aus seinen Knochen der Höhepunkt seiner Erregung wäre. Doch endlich, nach zähen Verhandlungen unter vier Augen, hatten sie einen Tauschpreis für den Bambusvogel vereinbart und die drei Wanderer nahmen die Kreatur mit sich.“
„Wo de peng you“, Yüo blieb wieder für einen Moment vor dem Chang stehen und fügte fragend hinzu,
„ist dir bekannt, was sie für den Vogel gegeben haben und warum brachten sie ihn nicht zu mir, wo sie doch um ihn und mich wussten?“
„Mein Freund, das Erstere kann ich dir nicht sagen. Sie teilten es mir nicht mit und ich getraute mich auch keineswegs, danach Erkundigungen anzustellen. Überhaupt schienen die Drei nicht wohlhabend zu sein und ich habe deshalb auch keine Vorstellung, was der Priester dem Eremiten geboten haben könnte.“
Chang Tou-fa legte eine kurze Pause ein und gab dann Antwort auf die zweite Frage.
„Sie hätten ja umkehren müssen, wollten sie dir den Vogel bringen. Wie dir bekannt, waren sie auf dem Weg zu den Fünf Heiligen Bergen und erst von dort wollten sie zurück nach Golmud, wo sie seit langem erwartet wurden. So marschierten sie weiter und trafen auf mich, nach dem sie sich bei den Menschen erkundigt hatten, ob es jemanden gäbe, der den Yüo vom Hochland kenne. Sei froh darum, denn niemand sonst zwischen hier und dem Schilfsee kennt dich gut und dazu noch deine Sehnsucht.“
„Ja, ich danke den Göttern und Ahnen, dass sie die drei Wanderer zu dem Geti geführt haben. Ich mag mir nicht vorstellen, was sonst mit diesem Vogel geschehen wäre.“
Chang Tou-fa nickte mit dem Kopf. Beide schwiegen für eine Weile, während aber Yüo weiterhin unruhig umherging. Chang zupfte von dem Gras und warf es in den Wind. Er versuchte die Augen seines Freundes zu erhaschen und meinte:
„Wo de peng you, eines muss ich dir sagen: Das Verlangen nach dem Bambussänger zwar mag dein Eigen sein“, sein Arm war nun zu den Bäumen hin ausgestreckt, „aber dein Besitz ist der Vogel nicht. Ich sehe auch den Käfig, dort im Schatten der Bäume neben dem Weinfass, und ich bin gewiss, du bautest ihn für den Niau-Zhuzi.“
Seine Worte klangen nun scharf. Yüo hatte sich endlich gesetzt und sprach, indem er langsam den Kopf hob:
„Mein lieber Chang Tou-fa, ich danke dir, dass du dich um den Bambusvogel bemüht und die Reise mit ihm zu mir getan hast. Sicher musstest du ihn pflegen, denn heute sieht er ganz unversehrt aus. Sagtest du nicht, dass Blut aus seinem Gefieder getreten war?“
„Ja, doch durch Raupen und Mais als Nahrung hat er seine Gesundheit und Schönheit zurück gewonnen. Aber auch vom Lotoswasser, von dem ich ihn trinken ließ, habe ich viel gebraucht. Mit Olivenöl habe ich sein Gefieder gepflegt und seinen Körper mit wärmenden Kräutern belegt.“
Chang unterbrach seine Rede kurz, um dann fortzufahren:
„Der Vogel hat sich an mich gewöhnt und bald flog er mir nach, wohin ich auch ging. Er setzte sich auf den Rand meines Bootes und fuhr mit mir hinaus auf das Wasser. Des Nachts schlief er im Gebüsch meines Gartens und beim Flicken der Netze sang er mir sein Lied und als ich zu dir aufbrach, schloss er sich mir freiwillig an.“
Yüo ging bei diesen Worten ein Stich durch das Herz und verletzt, aber auch spöttisch, dachte er bei sich: „Ob er dir auch gefolgt wäre, wenn du zum Gelben Meer gezogen wärest?,“ Er verneinte die Frage sofort, denn alles andere konnte und mochte er sich nicht vorstellen und er hoffte, der Vogel wäre seinetwegen zurückgekommen. Laut sprach er so:
„Aus deinen Worten, mein Freund, entnehme ich, dass du dich zu dem Vogel hingezogen fühlst und du meinst, auch er sich zu dir. Wenn du doch aber weißt, dass ich die Sehnsucht nach ihm in meinem Herzen trage – warum bliebst du dann nicht mit ihm am Schilfsee und ließest mich lieber im Ungewissen und nähmest mir diese Hoffnung nicht. Denn nun bin ich unruhig, traurig, bekümmert und niedergedrückt und auch böse auf dich, wo de peng you!“
Yan bu jian xin bu fan – Was das Auge nicht sieht, das bekümmert das Herz nicht.
Die Bedrücktheit kehrte zurück.
„Ich weiß um dein Verlangen“, antwortete Chang,
„und doch musste ich diesen Schritt tun. Denn auch in Zukunft wollte ich dir begegnen können, ohne dabei von Gewissensbissen geplagt zu sein oder etwas zu verheimlichen.“
Er hatte aufgehört zu reden, da er sah, wie Yüos Kopf mit dem Kinn auf die Brust zurückgefallen war. Doch nach einer kurzen Weile fuhr er fort:
„Mein Freund, schau mich an, denn siehe, wenn ich wieder von dir gehe, morgen oder einen Tag darauf, dann wird der Niau-Zhuzi mit mir zurückkehren und dann sind wir beide gewiss, wohin er gehört. Sollte er bei dir verbleiben – nun, das halte ich zwar für unmöglich – dann wissen wir, wohin der Vogel nicht gehört. Aber verstehe, auch ich wollte in dieser Angelegenheit ganz gewiss sein, ohne den Bruch zu dir zu vollziehen, du bist doch immer noch mein Freund, wo de peng you!“
„Aber hättest du es mir nicht ein wenig höflicher, oder einfühlsamer mitteilen können. Denn mein Herz – so sage ich es frei heraus – mein Herz ist verletzt.“
„Nun, so denke ich im Nachherein, in dieser Lage hätte ich wohl nur Fehler machen können. Egal, wie ich es dir gesagt hätte. Denn den Vogel mir zu gönnen, scheinst du nicht in der Lage zu sein und seinen Verlust zu bejahen, auch nicht. Ist es nicht so?“
Doch Yüo verstand den Chang nicht. Zwar hatte er sein Haupt wieder erhoben und ihm in die Augen gesehen, doch die seinen waren stumpf und dunkel geworden. Sie schickten sich nun an, ans Feuer zurückzukehren und ließen sich nieder, und beide stocherten mit einem Stock in der Glut. Der Bambusvogel saß nicht mehr dort, wo er sich zuletzt niedergelassen hatte. Er war hinübergeflogen zum Ginsterbusch und sang den beiden sich fremd Gewordenen sein Lied. Am Feuer herrschte Schweigen. Keiner vermochte dem anderen etwas Gutes zu sagen und Bitteres und Trauriges war genug gesprochen. So erhoben sich beide nach einer Weile und gingen nahe zu dem Platz, wo der Vogel saß und sang. Der Niau-Zhuzi verstummte für den Moment, als Chang und Yüo an den Ginsterbusch traten. Dann aber hüpfte er von dem Ast des Strauches auf die Türstange des Käfigs und von dort in die Voliere. Yüo hatte die kleine Türe immer offen stehen gelassen, an jedem der vergangenen Tage frische Hirsekörner hineingelegt und auch die Schale mit Wasser erneuert. Diese Einladung schien der Vogel nun zu seiner heimlichen Schadenfreude anzunehmen.
Chang Tou-fa streckte seine Hand aus, um den Sänger aus dem Käfig zu nehmen.
„Mein Freund“, sprach da Yüo in einem etwas schärferen Ton als sonst:
„Ist der Vogel dein Besitz? Ist er auch nicht der meine, wie du selber sagtest, aus welchem Grunde sollte er dann jetzt ausgerechnet der deine sein?“
„Ohne mich wäre diese kostbare Kreatur nicht mehr am Leben, ich pflegte sie gesund“, wand Chang ein und fuhr fort,
„und aus Dankbarkeit folgt mir der Vogel, er bleibt bei mir auch ohne Käfig, und gehört, wie auch mein Qi, zu mir.“
„Nein, das Leben verdankt er dem Priester und dessen Verhandlungsgeschick sowie dem Kaufpreis, von dessen Wert keiner von uns weiß. Er und seine Begleiter pflegten ihn zuerst. Du hast die Sorge um den Vogel nur fortgesetzt.“
Chang zuckte mit den Schultern, ohne den Redefluss des Gekränkten zu unterbrechen.
„Ich bin sicher, der Priester kaufte den Vogel für mich zurück und vertraute ihn dir nur an. Denn ich hatte ihm und seinen Begleitern mein ganzes Herz geöffnet und Ihnen – wie du unterrichtet bist – von meinem Begehr erzählt. Hatte er dir nicht vielleicht geboten, den Vogel zu mir zu bringen? Hast du ihn vielleicht betrogen?“
Zur Bitterkeit Yüos kam nun auch noch das Misstrauen. Chang hatte die Hand längst vom Käfig zurückgezogen. Beide sahen sich an mit Blicken, wie es bisher bei ihrem Beisammensein nie geschehen war. Noch ließ die hereinbrechende Dunkelheit ihre Gesichter erkennen. Sie hatten in der Vergangenheit oft miteinander gelacht und sich auf der anderen Seite auch nicht der Tränen des Schmerzes oder der Trauer geschämt. Sie hatten geplant und phantasiert, geträumt und sich gegenseitig beraten. Doch nun, mit einem Male, schienen sie wie Fremde, die nur das Gesicht, nicht aber die Seele des anderen kannten.
Zhi ren zhi mian bu zhi xin - du kannst das Gesicht eines Menschen wohl kennen, aber nicht sein Herz.
„Dann sollten wir die Stunden der Nacht entscheiden lassen“, meinte Chang Tou-fa, überlegte noch einen Moment, deutete auf den Käfig und fuhr fort:
„Wir sollten die Türe dazu geöffnet lassen. Sitzt der Niau-Zhuzi bei unserem Erwachen am Morgen noch immer oder wieder dort, soll es so sein; doch ist er ausgeflogen, werde ich mit ihm die Heimreise antreten.“
„Der Vorschlag scheint weise zu sein“, entgegnete Yüo,
„doch trotzdem werde ich die Türe jetzt schließen. Ich meine, das Tier hat sich bereits entschieden, denn warum sonst flog es in das Gitter. Der Niau-Zhuzi kannte den Käfig zuvor nicht. Ich habe ihn erst vor kurzem fertig gestellt. Er war nicht sein Heim. Es war nicht die Gewohnheit, die ihn bewogen hatte, in die Voliere zu hüpfen.“
„Vielleicht ist es die herannahende Nacht“, meinte der Chang.
„Nein, es ist so, wie ich sagte. Sieh es doch so, dass der Himmel den Mönch und seine Begleiter und dass die Götter auch dich als Werkzeug gebrauchten, um den Vogel aus den Fängen des Bösen zu befreien und mein Herz zur Ruhe zu bringen.“
Nun war es die Hand des Anderen, die zum Käfig griff. Yüo ließ die Tür entschlossen zufallen.
Chang Tou-fa war angesichts dieser Worte seines Freundes verblüfft. So kannte er den Sohn des Bauern Ku nicht. Für eine Weile war es Schweigen, in der entschieden werden musste zwischen Einklang und Disharmonie. Das Lächeln gewann für einen Augenblick. Dann sah der Chang dem Yüo fest in die Augen, und er sprach:
„Wenn du deine Trinkschale bis zum Rande füllst,
wird sie überlaufen;
wenn du dein Messer unablässig schärfst,
dann wird es eines Tages stumpf;
jagst du Reichtum und der Sicherheit nach,
wird niemals dein Herz sich öffnen;
sorge dich um die Zustimmung der Leute,
und du wirst ihr Gefangener sein.
Deshalb verrichte dein Werk und tritt zurück.
Das ist der Weg zur Gelassenheit.“
Leicht verbeugte er sich vor seinem Gastgeber und bat, sich in den Steingarten zurückziehen zu dürfen, um späterhin auf einer Matte dort auch die Nacht zu verbringen. Yüo aber gewährte es ihm. Eine Schale Reis oder Suppe wollte der Chang vor der Nachtruhe nicht mehr. Nur ein wenig von dem Anisöl, um damit Stirn und Schläfen befeuchten zu können. Der Abend war lau und auch Yüo zog es vor, sein Nachtlager außerhalb der Hütte, in der Nähe des Ginsters bei dem Käfig aufzuschlagen. Der endende Tag zog seine dunkle Decke fürsorglich über das Land und die Kreatur verstummte nach und nach. Der Südwind kam langsam zur Ruhe und das Flüstern der Blätter verstummte bald ganz. Gegen Morgen aber frischte der Wind dann von Norden auf.
Als Yüo fröstelnd erwachte, spürte er mit seinen Händen die Feuchte des Taus auf dem Yakfell, unter dem er lag. Noch war die Sonne nicht am Horizont erschienen, noch schwieg auch die Vogelwelt bis auf den Kauz mit seinem ‚kwiu’ und ‚guhk’ im nahe gelegenen Wald. Der junge Mann warf einen Blick hinüber zu dem Vogelbauer und erinnerte sich an die Ereignisse des Vortages. Dabei stiegen noch einmal aus Nieren und Herz die Furcht und die Freude, aus Milz und Lunge die Schwermut und der Kummer. Doch die Schmerzen verhallten schnell wie ein Echo, denn die befreiende Wahrheit saß ja dort in dem Käfig. Der Niau-Zhuzi ruhte auf einer der Stangen, wobei er den Kopf in das Gefieder zwischen Brust und Flügel geschmiegt hatte. Langsam erinnerte sich Yüo auch an die letzten Worte des Chang Tou-fa, bevor dieser sich zur Ruhe gelegt hatte. „Ich werde ihn noch schlafen lassen“, murmelte der Bauer und verharrte in einer kurzen Meditation, bevor er hinab zum Bach ging, um sich für den Tag zu erfrischen und zu ermuntern.
Als er die Trassen wieder hinaufstieg, wurde er von dem lieblichen Gesang seines Vogels begrüßt. Er schien sich in dem Käfig sehr wohl zu fühlen. Nachdem Yüo dann seine morgendlichen Atem- und Entspannungsübungen beendet hatte, nahm er ein wenig von dem Reiskuchen und von dem lauen grünen Tee. Anschließend ging er ein paar Schritte, um in den Garten zu gelangen. Er wollte nun Chang wecken. Dessen Reismatte aber war fein säuberlich zusammengerollt. Chang Tou-fa war ohne Abschied gegangen – und seit diesem Tag kam er nie wieder auf das Hochland, führte ihn sein Weg niemals wieder an den Ming Liang, wurde er nicht ein einziges Mal mehr gesehen bei Yüo, dem Sohn des Bauern Ku.
Fluch des Besitzes (21)
Für den jungen Bauern am Rande der Rong-Steppe hatte nun etwas Neues begonnen. Der Verlust der Freundschaft zwischen ihm und Chang Tou-fa wurde vom unermesslichen Gewinn des Bambussängers bei weitem überstrahlt. So jedenfalls empfand und erlebte Yüo es in den ersten Tagen und Wochen. Nur selten, ja mit der Zeit kaum noch, gedachte er der wertvollen Stunden mit dem Mann vom Schilfsee. Mit ihm aber hatte er viel gemeinsam gehabt und sie hatten sich auch ohne viele Worte verstanden. Sie waren, so schien es, aus ein und demselben Stoff. Eine Art von Freundschaft war es gewesen, die durchaus auch nur einmal in einem Leben gefunden werden kann. Jemandem zu vertrauen und mit ihm gemeinsam ein Netz zu weben, dessen Fäden aus mitgeteilten Gedanken bestehen, das war keine Selbstverständlichkeit. Sich an das Ufer des anderen zu setzen, ihm zuzuhören, dort zu verweilen, ohne den Freund nach seinen eigenen Vorstellungen verändern zu wollen, war eine Kunst, die kein Lehrer vermitteln konnte, sondern die das Leben unverhofft und unverdient schenkt. Wer bei einem Vertrauten Zuflucht nehmen kann, der ist wie jemand, dessen Sorgen und Fragen wie Schwärme aufgescheuchter Spatzen verschwinden. Chang Tou-fa war auf jeden Fall ein solcher Mensch, auf den das alles zutraf. Das hatte ihn für den Yüo in seiner selbstbezogenen Art so wertvoll gemacht. Yüo dagegen aber gedachte meist seines eigenen Vorteiles und daran, den anderen nach seinen Vorstellungen zu formen, was ihm aber im Moment des Handelns nicht immer bewusst war.
Chang war auch einer der Wenigen gewesen, die ihn nie wegen seines etwas anderen Aussehens gehänselt oder sich in irgendeiner Weise über ihn lustig gemacht hatten. Denn zwar war Yüo eindeutig ein Mann aus dem Gelben Volk, doch seine Lippen waren dafür eigentlich viel zu voll, seine Nase war dafür viel zu sehr geschwungen, seine Augen lagen viel zu tief und seine Wangenknochen standen zu weit hervor. Das Gesicht ähnelte eher dem Abkömmling eines Mannes aus einem der unbekannten westlichen Länder – das noch weit hinter dem Sonnenuntergang lag. Die beiden Narben auf der rechten Seite seines Gesichtes taten dann noch das Übrige. Durch sein anderes Aussehen war Yüo tief verunsichert. Er machte das Bild über sich selbst sehr abhängig von der Meinung anderer über ihn. Es brauchte nur einer unter vielen zu sein, der ihn als mangelhaft hinstellte. Für ihn war es dann die Wahrheit. Wenn aber drei ihn wissen ließen, wie gut ihm dieses oder jenes gelungen sei, dann konnte er es nicht annehmen. Doch Chang Tou-fa ließ ihn davon nie etwas spüren. Im Gegenteil: Was die einstige Verbindung zu dem Fischer vom Schilfsee anbetrifft, zeigte der junge Bauer, dass ihm etwas Entscheidendes nicht gegeben war. Denn zwar misst sich der Wert eines Kleides daran, ob es neu ist – eine Freundschaft aber wird umso wertvoller, je älter sie ist. Eine solche Brüderlichkeit außerhalb des Blutes war eigentlich wie ein Spiegel, in dem sich der eine in dem anderen erkennt und sie war ein Band, das nie zerreißt – auch wenn die Meinungen und Ansichten über dieses und jenes auseinandergehen. Doch es scheint Dinge im Leben zu geben, die dennoch ein solches Seil zerschneiden können. All die wertvollen Stunden waren jetzt Vergangenheit, schienen vergessen und fast aus der Geschichte des Bauern von Qamdo verbannt. Ein Wesenszug Yüos, der ihm zwar bewusst, aber doch auch recht erschien. Viel zu gern entschwand ihm, auf wessen Schultern er gestanden hatte, um in die Welt hinaus wachsen und bestehen zu können. Hatte der andere ausgedient, war er schnell vergessen! Bis, ja bis eine neue Not im Anzuge oder gar schon unerträglich geworden war. Dann konnte er sehr schnell wieder den Anspruch von Hilfe, die Bitte um Verständnis und die klagende Stimme erheben. Wie sehr konnte er andere durch seinen Rückzug und seine Schroffheit verletzen! Wurde er aber von anderen im Kleinen enttäuscht, dann konnte er innerlich bitter darüber weinen. Yüo hatte dem Freund viel zu verdanken. Sein eigener Selbstwert war durch Changs Anerkennung gewachsen. Nie hätte die Freundschaft zu Bruch gehen dürfen. Nie!
Der Sohn des Bauern Ku war jetzt ganz gefangen von dem Neuen. Das, was einmal gewesen war, hatte in seinen Augen vollkommen an Glanz verloren. Doch war es in der langen Geschichte des Kosmos und im Leben jeder einzelnen Kreatur nicht immer so gewesen, dass etwas sterben musste, damit anderes geboren werden konnte und das Eine ohne das Andere nicht sein konnte? Ja, so war es im Leben, so war es im Laufe der Natur. Hart und unbarmherzig ging es da zu. Aber sollte es nicht gerade unter den sprechenden, schreibenden, dichtenden und aufrecht gehenden Herrschern dieser Welt anders sein? Sollten sie nicht in Liebe und Hilfe für den anderen sorgen? Ja, so sollte es unter den Menschen sein! Anders als in der Natur, die keine Gnade kennt.
Doch für den Yüo schien das nicht gelten zu wollen. Er war – nachdem der andere seine Schuldigkeit getan hatte – hart und unbarmherzig. Für ihn gab es das Grau nicht: Schwarz oder weiß; für ihn gab es lau nicht: Heiß oder kalt; für ihn gab es die Mitte nicht: Ja oder nein.
Yin shui si yuan – wenn du aus dem Fluss dich labst, dann denke an seine Quelle.
Das Frühjahr stieg hinauf zu der beginnenden heißen Jahresmitte. Der Garten am Haus und der Stufenacker waren bestellt. Yüo verbrachte die Tage mit den Dingen des Einerleis, wobei er sich auch immer wieder für Stunden oder gar eine Tagesspanne weit von seiner Bleibe entfernen musste. Es galt, Holz zu schlagen und zu sammeln, damit das Feuer seine Nahrung behielt. Ebenso zog Yüo aus gleichem Grund in das Moor, um Torf zu stechen. Er musste Ried und Lehm besorgen, damit Wände und Dach seiner Hütte und die der Stallungen ausgebessert werden konnten. Er sammelte Jade und Muscheln im Fluss, um dem Händler Mai bei seiner nächsten Aufwartung etwas für das von ihm Gewollte zahlen zu können. Oder der junge Bauer wanderte nach jenseits des Ming Liang, um im Wald der schroffen Felsen nach Moos zu suchen, mit dem die Ritzen der Hüttenwand wunderbar abgedichtet werden konnten. Pilze sammelte er oder die köstlichen Beeren, die an den wilden Sträuchern wuchsen. Bei dem allem aber vertraute er darauf, dass dem Vogel nichts geschehen würde. Denn das Eigentum im Lande Zhong Guo wurde vom gemeinen Mann geachtet. Anders war es bei den Höhergestellten, den Angesehenen, den Wohlhabenden bis hin zu des Kaisers Thron. Was der andere besaß, wurde ihm geneidet. Was man selbst nicht in Händen hielt, wurde dem anderen mit List entlockt oder mit Gewalt entrissen. Die Sitten des Meisters Kong oder die des weisen Laozi wurden, je höher jemand in den Rängen stieg, desto mehr in den Wind geschlagen. Es schien, als betäube die Macht das Gefühl für den Anstand. Aber kaum einer dieser edlen und hohen Herren würde den Weg in diese einsame Gegend wagen.
Freilich, es war schon immer so gewesen in der Geschichte des Menschengeschlechtes! Hatten nicht die Helden der Urzeit mit ihrer Eifersucht, ihrem Neid und ihren Täuschungen, mit Hochmut, Unaufrichtigkeit, Lüge und Mord den Boden dafür bereitet? Yüo war sich nicht sicher, ob der grobe Eremit, von dem Chang berichtet hatte, überhaupt wusste, wo sich der Niau-Zhuzi aufhielt, und wenn schon. Angst, dass womöglich dieser ungehobelte Mann seinen Weg nach hierher finden würde, hatte der Sohn des Bauern Ku nicht. Aber nicht deshalb, weil er furchtlos war. Oh, nein, denn das war er bei den Göttern nicht. Aber er wusste, dass ihn die Ahnen und Götter davor schützen würden. Der Platz um seine Bleibe war ihnen geweiht. Aus diesem Grunde opferte er oft außerhalb der vorgeschriebenen Zeit von dem, was er hatte. Die roten Bänder am Vordach trugen ihren Teil zur Abwehr des Bösen bei. Wie es auch sei, Yüo war sich seines Besitzes sicher.
Die Monate kamen und gingen und auch der Händler Mai blieb nicht aus. Einmal sagte dieser zu Yüo gewandt:
„Ich hoffe, du weißt, was du an diesem Vogel hast. Wie ich bereits einmal bemerkte, ist er von einmaliger Schönheit und ich würde sehr viel hergeben, um ihn zu besitzen.“
Mehr als nur dieses Mal fiel eine solche Bemerkung – auch von denen, die sonst seinen Weg kreuzten. Yüo war immer sehr schnell dabei, zu nicken und lächelnd zu antworten:
„Ja, ich bin mir dessen bewusst und bin sehr froh.“
Doch war dies nur die halbe Wahrheit. In den letzten Wochen nämlich, war eine merkwürdige Veränderung in ihm vorgegangen, die ihm Not bereitete. Er ließ es sich in Gegenwart anderer nicht anmerken. War er aber allein, so waren Grübeln und Unruhe seine Begleiter. Yüo hatte sich an der reichen Natur und den vielen Lebewesen eigentlich immer recht erfreuen können. Auch seinen Gedanken waren in der Vergangenheit frei herumgewandert, hatten hier und dort gefischt, dieses und jenes gefangen und manche schöne Entdeckung gemacht. Doch mehr und mehr fühlte er sich eingeengt und die Freude über das Schöne schwand dahin wie das Wasser eines versiegenden Flusses. Einige Monate nach der Auseinandersetzung mit Langhaar um den Besitz des Bambussängers – im Herbst des Jahres - geschah es, dass sich Yüo vor allem den gefiederten Kreaturen gegenüber nicht mehr frei bewegen konnte. Der junge Bauer verkrampfte sich innerlich und auch äußerlich. Durch ein Bad im Flusse und Übungen des Atems waren die körperlichen Beschwerden zu beheben. Jedoch gegen die Enge der Seele fand er kein Mittel. Die Handschwingen und Flügeldecken der anderen gefiederten Wesen, ihr Bauch und Nacken, ihr Lauf und der Überaugenstreif betörten ihn und der Sohn des Bauern Ku begann, sie mit denen des Niau-Zhuzi zu vergleichen. Mit Erschrecken musste er dabei feststellen, dass jene Vögel aus Wald und Feld ihm ab und zu besser gefielen. Sie waren wilder, schienen ihm verfügbarer und ihre Laute und Melodien fingen an, ihn zu betören. Oft saß er abends bedrückt vor dem Käfig und wusste nicht mit seinen Anwandlungen umzugehen. Seine Lunge brannte ihm und sie war wie eingeschnürt. Innerlich begann er, manches Mal zu weinen und der Zeit der ersten Liebe nachzutrauern. Er wünschte sich oft, der Niau-Zhuzi wäre der einzige Vogel in Zhong Guo. Denn dann könnte er sich so recht an ihm erfreuen und bräuchte ihn nicht mit anderen zu vergleichen. Der Sohn des Bauern Ku begann, dieses und jenes bei dem Bambusvogel zu bemängeln und ihm deuchten die anderen Vögel makelloser. Der Niau-Zhuzi sollte für ihn der schönste unter den Vögeln sein, aber er war es nicht. Aber sich dieses einzugestehen, traute Yüo sich nicht. So geriet er mehr und mehr in die Falle von Lüge und Zwang. Die Wahrheit aber zuzulassen, hätte ihm die Freiheit gebracht. Das wusste er wohl, doch lieber wäre er gestorben, als diesen Schritt zu tun. Es kam soweit, dass sich Yüo kaum noch zu dem kleinen Fluss hinab begeben wollte. Wenn dort auf einem der niedrig über den Wellen hängenden Äste der Eisvogel saß und auf Beute wartete, dann mochte er kaum dort hinsehen. Was ihm zuvor natürlich erschien, war ihm nun wie eine Versuchung. Die smaragdgrüne Kehle und der weiße Fleck am Hals, die rostbraunen Wangen und Unterseite, der dunkle Schnabel und vor allem auch die korallenroten Füße ließen ihn an der Schönheit seines Niau-Zhuzi zweifeln. Das kurze Trillern seiner Stimme und das durchdringende ‚tiht’ schienen ihm verlockender als der himmlische Gesang des Bambussängers.
Dann redete Yüo leise vor sich hin und beteuerte sich und den unsichtbaren Begleitern, den Hauchseelen und Geistern der jenseitigen Welt, dass der gelbe Vogel dort in dem Käfig neben seiner Hütte der schönste sei und niemand es mit ihm aufnehmen konnte. Allein – es war gelogen. Einmal sogar warf er einen flachen Kieselstein nach dem Eisvogel, damit dieser wegflöge und Yüos Ruhe zurückkehren konnte. Hätte er sich doch sagen können, dass auch jene Kreaturen von der Allmacht liebreizend geschaffen seien, dass sie schön anzusehen waren, aber der Niau-Zhuzi der Vogel seines Herzens war! Er konnte es nicht.
„Oh, ihr Götter, ich danke euch, dass es den Niau-Zhuzi gibt!“, sprach er oft laut vor sich her. Beim Hacken des Holzes, beim Kochen der Suppe, beim Waschen im Fluss, beim Beschneiden der Rebstöcke und natürlich beim Opfern sprach er so. Doch es war mehr die Abwehrhaltung gegen die Dämonen, die begannen, sich in ihm zu regen. Es war nicht die Überzeugung echter und tiefer Freude. Diese Worte formten sich nicht zu einem inbrünstigen Gebet, sondern es waren stumpfe Pfeile, geschossen auf Feinde, deren Panzer undurchdringlich und die deshalb so nicht zu vernichten waren. Je mehr Yüo kämpfte, desto stärker wurden die Teufel in ihm. Er wanderte des Öfteren zum grünen Hain und hatte die Hoffnung, dass er dort wie einst träumen würde und die Bedeutung der Erscheinung diesmal nicht so lange auf sich warten ließ. Aber nichts dergleichen ereignete sich. Weder die Stille und Ruhe, noch die Harmonie dieser Oase konnten Eingang in seine Seele finden. Er nahm auch Kräuter und Pülverchen zu sich, solche, die zur Auflösung der inneren Verhärtung dienen sollten, aber sie halfen nicht und auch der einst beste Freund kam nicht mehr und würde für ihn gewiss auch kein Verständnis haben – im Gegenteil.
Es fehlte der Mensch, dem er sich hier anvertrauen konnte. Schade eigentlich, dass das, was einem lieb ist, oft durch eine andere Liebe zerstört wird. Yüo spürte den Schmerz in seiner Seele und dachte, der Händler Mai könne ihn vielleicht, wenn er käme, gar verachten, weil er gespürt hätte, was in ihm vorging, ohne von Yüo die Wahrheit zu hören, ebenso alle anderen. Sie würden ihn kaum verstehen können, da er ihnen nie so nahe gewesen war. Bei seinen Gedanken, wem er vertrauen könnte, kamen die Erinnerungen an den Priester Luanxing, der mit seinen jungen Begleitern, Jiao und Guang, auf der Durchreise zu den fünf Heiligen Bergen bei ihm zu Gast gewesen war. Er musste an die Worte des Wandermönches denken, sah vor seinem inneren Auge, wie dieser die Flöte spielte und sah vor sich die Übergabe des Pergaments mit den Worten des achtfachen Pfades aus Tienchou. Yüos Wunsch, noch mehr von dem Prinzen und seiner Lehre zu erfahren, ja, die Lehre zu leben, wurde stärker. Eine Reise nach Golmud schien dem Sohn des Bauern Ku deshalb immer wahrscheinlicher. Doch es würde ein Unterfangen mit weitreichenden Vorbereitungen und Veränderungen werden. Mit dem Luanxing einen Austausch zu haben, nicht so im stillen Zwiegespräch, wie er es sich angewöhnt hatte, sondern von Angesicht zu Angesicht, würde ihm gewiss eine große Hilfe sein. Vielleicht aber sollte er es nicht bei einer Unterredung mit dem Mönch belassen, sondern für eine längere Zeit in dem Kloster von Golmud verweilen. Der Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung in seinem Leben war groß. Was sollte er nur tun?
Späte Erkenntnis (22)
In dieser Zeit kam dann der Händler Mai in die Provinz Qinghai und stattete auch dem Yüo den notwendigen Besuch ab. Sie begegneten sich unten am Ming Liang. Die Zeit des Sommers war nun vorbei und in diesem abgelegenen Landstrich war es gut, sich für die herannahende beständige Neige der Sonne ausreichend zu rüsten. „Ich hoffe, es geht deinem Qi gut und deine Seele hat Frieden“, sprach der Reisende, als sie den geschlungenen Pfad hinauf zur Hütte gingen. Mai schaute den Mann vom Fluss lächelnd an. Mit den Worten ‚hast du heute schon eine Mahlzeit zu dir genommen’ hatte Yüo den Händler bereits beim ersten Verbeugen begrüßt und es auch ernst gemeint. Nun konnte er diese Worte nicht noch einmal benutzen, hätte es aber gerne getan, um einer Antwort auf die Befindlichkeit seiner Seele und des Qi zu entgehen. Aber nichts zu sagen und zu schweigen auf das Wort eines anderen hin, ist von schwerwiegenderer Bedeutung, als irgendetwas daher zu sagen und zudem ist es auch unhöflich.
„Du wirst sehen, dass ich allen Grund habe, zufrieden zu sein“, meinte Yüo und deutete mit seinem Arm hinauf zu seiner Heimstätte.
„So?“
„Ja, es ist bei mir alles geordnet.“
„Und doch scheint dich etwas zu bedrücken.“
„Eigentlich nicht.“
„Doch. Irgendetwas ist.“
„Nein.“
Der Händler blieb auf halber Höhe der Terrassen stehen.
„Ich spüre es aber.“
„Nein.“
„Bist du krank?“
„Nein.“
„Sorgst du dich um deine Zukunft?“
„Nein.“
„Ist es der Bambusvogel?“
„Mmmh“
„Es ist der Niau-Zhuzi!“
Da Yüo nun schwieg, sprach Mai weiter.
„Es ist also der Vogel, nicht wahr?“
Sein Begleiter nickte nun kaum merklich und sein verlegendes Lächeln schwand.
„Musst du denn immer alles merken und vor allem, musst du es auch immer gleich aussprechen?“
„Du warst hartnäckig, erst mein Nachfragen brachte dich zu der richtigen Antwort.“
„Was ist richtig?“
„Nun, die Wahrheit.“
„Was ist Wahrheit?“
„Das Richtige.“
Es entstand eine kleine Pause, an deren Ende beide lachen mussten. Der eine herzlich, der andere etwas gequält. Sprach nun doch im ernsten Ton Mai:
„Verzeih, mein Freund, auch wenn ich dir nicht so nah stehe, wie es vielleicht andere tun, so liegt mir doch an dir und deinem Wohlbefinden.“
„Schon gut, wo de peng you, schon gut. So viele Menschen, die mir nahe stehen gibt es nicht und es scheint, ich werde nie lernen, etwas wirklich zu verheimlichen.“
Sie begannen, sich weiter den Pfad hinauf zu mühen und Mai sagte:
„Nun, das ist nicht gerade verkehrt. Heuchler gibt es doch genug auf dieser Erde und es gibt nicht so viele, deren Fenster zur Seele offen ist.“
„Xiexie, wo de peng you.”
“Ich vermute, du hast den Bambusvogel zwar äußerlich ganz bei dir und bist doch nicht vollkommen glücklich.“
„Ja, und ich schäme mich vor dir. Denn einst hatte ich dich wissen lassen, wie sehr mein Herz an dem Bambussänger hängt und gegen nichts in dieser Welt hätte ich ihn eingetauscht. Doch in meinem Herzen wird der Platz für ihn immer enger.“
Sie saßen beim Cha und einer Tasse Hühnersuppe. Der Käfig mit dem Niau-Zhuzi war in ihrer Sichtweite und der Vogel sang sein Lied.
„Eigentlich ist es einfach schön, ihm zuzuhören und es ist köstlich, ihm zuzusehen“, sagte Yüo, wohl um sich selbst Mut zu zusprechen.
„Ja, aber du sagtest vorhin, dass du den Vogel nie gegen einen anderen eingetauscht hättest. Das klingt, als denkest du jetzt anders darüber. Ich jedenfalls wäre überfroh, wenn der Vogel mein Eigen sein könnte.“
„Nein, natürlich denke ich nicht anders darüber. Nie würde ich den Bambussänger freiwillig hergeben, sonst hätte ich auch nicht so gesprochen wie gerade eben.“
Mai schaute dem Yüo fest in das Gesicht und nun sprach dieser von seinen Nöten. Wenn er auch nicht alles sagte, dem Händler reichte es, um zu verstehen. So sagte abschließend zu seinem Bekenntnis Yüo:
„Es ist wie ein starker Widerspruch in mir. Denn einerseits liebe ich diesen herrlichen Vogel über alles und andererseits habe ich auch Gedanken der Ablehnung.“
Da sah ihm Mai tief und lange in die Augen und redete so:
„Als wir eben vom Flusse hierher hinaufstiegen, mussten wir uns auf den letzten Schritten vor Erreichen der Anhöhe einmal an einem Teestrauch festhalten, um nicht abzugleiten.“
Yüo konnte sich gut erinnern und er nickte. Der Mai aber fuhr fort, so zu sprechen:
„Wenn du eine Klippe erklimmst, brauchst du hin und wieder Büsche, um dich daran festzuhalten. Wenn du den Herausforderungen des Lebens gegenüberstehst, brauchst du manchmal Hilfe.“
Yüo erhob sich von seinem Platz und sprach:
„Ich weiß, dass ich Hilfe benötige und ich bin froh, dass du mich deswegen nicht verachtest, auch meiner Unehrlichkeit wegen nicht.“ Yüo entschuldigte sich und ging in die Hütte. Kurze Zeit später trat er zurück an das Feuer. In seinen Händen hielt er eine Rolle Pergament und das Bündel der Schafgarbenstängel. Mai wusste, was Yüo mitgebracht hatte.
„Du willst das I Ging befragen?“
„Das Orakel kann mir gewiss meine Frage nach dem nächsten Schritt, den ich zu tun habe, beantworten. Noch nie habe ich es befragt. Ich hoffe, du wirst noch etwas länger als vorgesehen bleiben, um mir zu helfen, die Regeln zu befolgen.“
Mai schaute ein wenig verlegen zu Boden und malte mit einem herumliegenden Stock in den Boden.
„Nun, ich bin dein Gast und kann dir eine solche Bitte nicht abschlagen, obwohl ich es – verzeih mir meine Aufrichtigkeit - gerne täte. Denn siehe, ich bin ein Händler und lebe vom Kauf und Verkauf...“
„... Du hast mich nach meinem Seelenzustand befragt und mich darauf hingewiesen, dass ich Hilfe benötige“, fiel ihm Yüo ins Wort
„dann wäre es doch auch recht und billig mir jetzt zu helfen.“
„Ja, natürlich, du hast Recht. Aber meinst du nicht, wir sollten heute zunächst unsere geschäftlichen Dinge beschließen? Morgen – nach einem erholsamen Schlaf – mag ich dann festlegen zu bleiben oder nicht. Ich weiß sehr wohl, wie wichtig dir dieser Augenblick ist, doch könnte ich mit meiner fehlenden Konzentration manches ins Ungleichgewicht bringen. Deshalb lass uns nun handeln.“
Yüo war nur zu klar, dass dies eine Ausrede war. Mai hatte gerade seine Fähigkeit als Erkenner bewiesen. Er war nicht nur ein Kaufmann. Ein Blick in die Augen des Yüo hatte ihn bis in dessen Seele schauen lassen. Wenn er auch nicht gleich die ganze Wahrheit gewusst hatte, so hatte er doch bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Yüo sagte aber nun nichts weiter, denn er wollte dem Händler nicht das Gesicht nehmen und es gab noch etwas anderes, das dem Yüo bisher nicht deutlich gewesen war. Auch wenn der schönste aller Vögel für ihn an Schönheit verloren hatte, für andere wurde er scheinbar umso begehrenswerter. In solchen Momenten wie diesem wurde dem Sohn des Bauern Ku bewusst, dass eine Freundschaft, wie sie mit Chang Tou-fa bestanden hatte, nicht einfach zu ersetzen ist. Mai war vor allem der Güteraustausch wichtig und er würde nur aus Höflichkeit bleiben, nicht aber, um des Wohles seiner Seele willen. Gerade hatte er ihm sein Herz gezeigt, sich ihm offenbart, ihm geheimste Dinge anvertraut. Jetzt, in diesem Moment, lag sein Inneres offen und war für das Spirituelle, für das Transzendente zugänglich. Wenn nun Mai seine Hand wegziehen würde, dann war er noch verlorener, noch einsamer, noch verlassener als zu dem Zeitpunkt, wo der Reisende seine Parzelle noch gar nicht betreten hatte. Es war nicht gut, an einer Wunde zu rühren und dann bei ihrer Behandlung nicht mitwirken zu wollen. Yüo war deshalb innerlich unzufrieden mit Mai und er nahm sich vor, in ähnlichen Fällen nicht noch einmal so offen zu sein. Nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Male bedauerte er schmerzlich den Riss zwischen ihm und dem Mann vom Schilfsee. Jetzt, wo er in Not war, wo er treue, tiefe Hilfe, einen Ratschlag, Ermutigung und Trost gebraucht hätte, fehlte ihm Chang. Jetzt, wo er nach einem Halm griff, war dieser nicht da. Jetzt, wo er hätte. aufgefangen werden sollen, fehlte das sichere Netz. Es war ihm wie ein reißender Fluss, dessen anderes Ufer ohne die Brücke nicht zu erreichen war. Yüo beschloss, nun zunächst die für die nassen und kalten Monate wichtigen Dinge zu erstehen, mit dem Kaufmann zu feilschen und von ihm Neuigkeiten zu erfragen. Dann aber hatte er vor, ihn zu bitten, sich nicht länger aufhalten zu lassen.
Antwort des Herzens (23)
Der Beginn des nächsten Tages war durch eine kühle Brise vom Waldrand her und einen wolkenlosen Himmel bestimmt. Der Kaufmann war noch am frühen Abend zuvor weitergezogen, so wie Yüo es sich gewünscht hatte. Er brauchte Mai dazu auch nicht lange aufzufordern. Dieser konnte noch einige Stunden wandern, bevor die Nacht sich über die Provinz legte. Der Sohn des Bauern Ku jedoch hatte sich schon beim abendlichen Lagerfeuer eingehend mit einer der Buchrollen beschäftigt und sich kundig gemacht, wie das Orakel zu befragen war. Doch bevor Yüo dieses Ritual nun selbst vollziehen wollte, erledigte er seine Morgengeschäfte und säuberte den Käfig seines Bambussängers. Dieser hatte, wie immer zu Beginn des Tages und während Yüos Morgentätigkeit im Ginsterbusch sitzend, fröhlich sein Lied gesungen, im Glauben, dass auch sein Herr glücklich war und die Melodie in seiner Seele Widerhall fand.
An diesem Morgen wollte der Fragende keine Mahlzeit zu sich nehmen, sondern ergab sich stattdessen Übungen der Entspannung. Lediglich zwei Schalen des grünen Tees, heute versehen mit einer Prise Salz, hatte er geschlürft und ging dann in den Steingarten. Hier suchte sich Yüo an der Mauer mit den weißen Steinen einen passenden Ort und breitete vor sich die Buchrollen, die Stängel der Schafgarbe, Weihrauch, Riechhölzer, Pinsel, Ziegel, Tuscheblock, einen Becher mit Wasser und ein unbeschriebenes Pergament aus. Zweimal musste Yüo zur Hütte laufen, um all diese Dinge bereitzustellen. Das Wasser aber nahm er aus dem Rinnsaal. Dann endlich ließ er sich im Lotossitz nieder, verharrte kurz im Gedächtnis an die Ahnen und entzündete die beiden Hölzer, die er links und rechts vor sich in den Grasboden gesteckt hatte. Etwas Glut vom Herdfeuer hatte er schon zuvor in die Weihrauchschale gelegt. Auch wenn ihn es schmerzte, so war Yüo doch froh über die Ehrlichkeit des Händlers Mai, denn seine Achtsamkeit auf das nun Kommende konnte nach durchschlafener Nacht und ohne Begleitung nicht besser sein als jetzt. Versunken in Gedanken nahm Yüo den Becher, goss von dem Wasser auf den Schieferstein, nahm den Tuscheblock und rieb ein wenig von der Tinte an. Sein Atem aber ging ruhig und Yüo war entschlossen, der Stimme in sich genau zuzuhören. So schloss er seine Augen, legte die Hände in den Schoß und sprach halblaut vor sich hin:
„Mein Herz, sage mir, welche Frage soll ich dem Orakel stellen?“
Er ließ eine Stille folgen, um die Antwort seines Herzens zu empfangen. Doch kam es anders als von dem Yüo beabsichtigt. Denn mit einem Male sah dieser die stattliche Erscheinung des Luanxing vor sich, aber nicht nur das, er hörte ihn auch reden und diese Worte sagen, die mehr ein Rat als eine Frage waren:
„Wo de peng you – hast du nicht selbst schon dich gefragt, ob du uns nachfolgen solltest!“
Yüo errötete, als wäre der Mönch leibhaftig mit ihm im Garten. Er riss die Augen auf, aber nur, um sie gleich wieder zu schließen. Denn auf keinen Fall wollte er das Schemen vertreiben. Einen Moment dachte er in sich hinein, erinnerte sich seiner Überlegungen, die er einige Tage zuvor gehabt hatte, und murmelte dann:
„Natürlich, du hast Recht.“
Der Luanxing in seiner Erscheinung antwortete so:
„Warum dann, fragst du noch das heilige Orakel, wenn du schon weißt, was zu tun ist?“
„Weil ich mir über die Antwort nicht sicher bin.“
„Oh doch. Wenn du ehrlich und wahrhaftig bist, dann weißt du die Antwort.“
„Ich will aber trotzdem das Orakel befragen.“
„Du solltest es aber nicht missbrauchen. Warum hörst du nicht auf dein Herz! Frage deshalb noch einmal dein Herz und lasse das Orakel sein.“
„Kann ich mich denn auf mein Herz verlassen?“
Die Antwort des Mönchen war überraschend:
„Wenn du einen Schritt tust, dann tragen dich die Götter zwei.“
Das war gut gesprochen und Yüo wollte sich bei der Erscheinung bedanken, aber seine Frage noch einmal wiederholen. Doch gerade wollte er seine Worte mitteilen, als das Schemen schon verschwunden war. Ja, Luanxing hatte recht. Er, der Yüo, sollte seine Fragen nicht dem Orakel stellen, sondern dem eigenen Herz. So schien es richtiger. So schien es ehrlicher, so schien es erfolgversprechender. Was nun wollte aber sein Herz? War die Antwort schon gegeben? Konnte er sich auf sein Herz denn verlassen? Yüo schaute auf zum Himmel und wartete einen Moment ab. Die Antworten aber ließen auf sich warten. Yüo beschloss daher, nur eine Frage an sein Herz zu stellen und es schien ihm nun auch gut, dass der Geist des Tempelpriesters nicht mehr anwesend war. So nämlich war er dazu genötigt, die Frage an sein Inneres zu richten und sich nicht auf andere zu verlassen. Während Yüo so in der Stille verharrte, hoffte er, dass er dabei die für ihn richtige und passende Antwort finden würde. Er griff zu dem Pinsel, tauchte ihn in die Tusche und schrieb auf den Bogen Pergament diese Worte:
Wo de xin shen ni yao shenme? – Was, mein Herz, willst du?
Danach tat Yüo den Pinsel in den Becher mit Wasser, schloss wiederum die Augen, streckte seine Arme von sich und öffnete die Hände. Er wollte ganz empfänglich sein wie ein leeres Gefäß, das bereit war, sich mit kostbarem Öl füllen zu lassen; er wollte offen sein, wie die Nabe eines Rades, um das sich die Speichen drehen konnten. So harrte er aus, verweilte für einige Augenblicke und hoffte inständig, dass er sich auf sein Herz verlassen konnte. Er wollte die Antwort abwarten und dann entscheiden, ob sie für ihn passend war oder auch nicht. Während Yüo so saß und in sich hinein horchte, kamen ihm diese Worte in den Sinn:
Qian li zhi xing, shi yu zu Xia. Che dao shan qian bi you lu – auch eine Reise von tausend Li beginnt mit dem ersten Schritt. Der Wagen findet schon seinen Weg über den Berg, wenn er erst einmal dort ist.
Die Gedanken waren angenehm, die Stille war wohltuend, das Empfangen berührte die Seele. Von daher meinte der Suchende, dass ihn sein Herz nicht betrog. Er nahm also den Pinsel erneut und schrieb diese empfangenen Worte unter seine zuvor gestellte Frage. Dann säuberte er das Schreibwerkzeug, legte es beiseite, schloss die Augen, verharrte und ließ seinen weiteren Empfindungen ihren Lauf. Yüo dachte daran, was wohl sei, wenn er zum Kloster nach Golmud wanderte und bei seiner Ankunft der Wandermönch und seine Begleiter schon weitergezogen wären. Und wenn schon! Die Lehre des Prinzen hatte ja sicher bis dahin Einzug in das Kloster gehalten und er würde durch die Mönche so manches erfahren können. Trotzdem, er würde sich sehr freuen, die drei Fremden noch einmal zu sehen. Dann kamen ihm weitere Zweifel. Was, wenn die Lehre des Prinzen ihn verführte und sich am Ende als falsch erwies? Was dann? Aber zuhören und ‚nein’ sagen konnte er immer noch. Doch hatte er nicht jetzt eigentlich Frieden in seinen Gedanken? War nicht sein Geist von der Lehre des Prinzen, wie er sie bisher vernommen hatte, ergriffen! Im Steingarten zwitscherten die Vögel, flüsterten die Bäume im Frühwind und gurgelte das Bächlein mit dem klaren und kalten Wasser. Das Gemecker der Ziegen auf der angrenzenden Wiese und das Scharren der Hühner im Kies gehörten ebenso dazu. Der Bambusvogel aber saß jenseits der Gartenmauer im Ginster und sang zu alldem sein fröhliches Lied.
Für kurze Zeit waren Yüos Gedanken in die Vergangenheit abgeschweift. Doch dann war er wieder im Hier und Jetzt und dachte über das Zukünftige nach. Als er so sann, wurde in ihm der Wunsch übergroß, diesen Ort zu verlassen, um in das Kloster nach Golmud zu wandern. Ja, in ihm war mit einem Male die Entschlossenheit gewachsen, diesen ersten Schritt in eine neue Zukunft zu tun. Und mehr noch – er wollte nicht nur für eine gewisse Zeit nach Golmud und dem Kloster reisen, um dann wieder nach hier zurückzukehren. Es ging mit einem Male um viel mehr. Es ging darum, die Hütte mit ihrer Geborgenheit am Rande der Rong-Steppe für immer zu verlassen. Die Terrassen, den Garten, die Hühner und die Ziegen, das Maultier – wer würde sie in Zukunft versorgen? Konnte er sich in einer Gemeinschaft von Vielen auf Dauer wohlfühlen und sich ordnend einfinden? Sollte er noch vor Anbruch des Winters den langen Weg auf sich nehmen, oder bis in das nächste Frühjahr warten? Vor welchen Gefahren musste er sich wappnen? Alles aber würde sich ergeben. Er musste nur dieses erste Tun auch wagen und würde dann den vor ihm sich befindlichen Berg gar nicht mehr als so hoch empfinden. Ja, er war sich nun sicher, dass sein Herz und die Erscheinung Luanxings ihm hier die richtigen Antworten gegeben hatten und er das Orakel nicht mehr befragen musste. Noch einen Augenblick verharrte Yüo in der Stille. Sein Herz war dankbar und so wusste er sich von dem richtigen Entschluss getragen. Dann beendete er seine Ruhezeit im Garten mit einem kurzen ‚shide shi’ und räumte die hergebrachten Sachen wieder an ihren Platz. Als alles erledigt war, ging Yüo von der Hütte hin zu dem Feuer und tat sich bald an geschmorten Pilzen und einer Schale guter Hühnersuppe gütlich. Der Morgenwind trieb eine Handvoll Blätter über die Wiese.
Bu shang gao shan, bu xian ping di. - Wer nicht auf den Berg steigt, kann die Ebene nicht bewundern.
Mönche (24)
Durch drei dumpfe Schläge wurde der Wächter unsanft aus seinem Halbschlaf und den wirren Träumen gerissen. An die Mauer gelehnt, saß er mit angewinkelten Beinen auf dem Steinboden. Zunächst phantasierte der Mönch, der Trommler hätte zur Arbeit gerufen. Doch als er die Augen ganz geöffnet hatte, wusste er, es konnte erst die Stunde des Tigers sein. Ein noch tiefgrauer, mit Nieselregen durchsetzter Tag hatte gerade erst begonnen. Es war klamm und ungemütlich. Auf dem Grund des Vorhofes klebten verstreut einige braune Blätter des Spätherbstes. Waren die Laute nur Teil seines Traumes gewesen? Waren es die Ahnen, die ihm geboten hatten, seinen Wächterdienst treuer zu verrichten? Mit der Linken an die Wand gestützt, erhob sich der Hüter des Klosters vom kühlen Lager, klopfte sich die Nässe vom ledernen Überwurf, schaute nun zu allen Seiten und griff nach der neben ihm stehenden Lampe. Während er so zu sich kam, spähte und nachdachte, wiederholten sich die Schläge. Tatsächlich. Es war keine Einbildung gewesen. Das Klopfen kam vom Tor. Der Mönch tat einige Schritte vorwärts und rief:
„Shui nali ? - Wer da und das zu dieser frühen Stunde?“
Er hatte es nicht nur laut, sondern auch etwas gereizt gerufen.
„Ein Pilger, ein müder und erschöpfter Pilger“, kam es etwas heiser, eingeschüchtert und gedämpft von der anderen Seite. Der Wächter schlurfte in Richtung des Tores, legte den Riegel zur Seite und zog einen der schweren Holzflügel zurück. Die mächtige Tür des Klosters ächzte, als sie sich nach innen öffnete. Vor ihm, im Schein des Lampions, sah der Mönch einen Wanderer, dessen Erscheinung ihn erstaunen ließ. Seine halblangen nassen und schwarzen Haare hingen ihm in Strähnen über Augen und Wangen. Zu beiden Seiten seiner Hüften trug er je einen Beutel, von denen das Wasser tropfte. Das Gewand und die Taschen waren wohl aus gegerbten Ziegenhäuten. Er war nicht unbedingt von großer Gestalt. Doch was den Öffnenden den Schlaf vollkommen vergessen ließ, war der Vogelkäfig, der breiter war als die Schultern, die ihn trugen, und dessen Spitze über den Kopf des Mannes emporragte. Trotz des darüber geworfenen Tuches war gleich zu erkennen, dass es sich um eine Voliere handelte. Deshalb machte der Hüter eine abwehrende Handbewegung.
„Oh nein, einem Vogelfänger werde ich keinen Einlass in diese heiligen Mauern gewähren.“
Dem Ankömmling schien es die Sprache zu verschlagen und er schaute verdutzt durch den Vorhang seiner Haare, als überlegte er, wieso jemand auf solch eine Idee käme. Dann schien es ihm klarzuwerden. Der Mann fasste sich an die Stirne und sprach:
„Ach so, du meinst weil ... Nein, auf keinen Fall ist es so, edler Herr. Das Gegenteil ist es. Doch bitte lasst mich durch dieses Tor zu euch eintreten. Die Reise war lang und beschwerlich und fast meinte ich, mein Ziel nicht erreichen zu können.“
Während er diese Worte nun sprach, hatte der Fremdling Arme und Hände über die Brust gekreuzt und sein Haupt leicht geneigt.
„Nun, ich schätze deine Hochachtung und Höflichkeit mir gegenüber“,
entgegnete ihm der Wächter,
„allein, der edle Herr bin ich nicht, wie du weißt. Es ist wohl meine Aufgabe, über den edlen Herrn zu wachen und nur dem Einlass zu gewähren, der in guten Absichten kommt oder aber sich in Not befindet.“
„Verzeiht meine übertriebene Höflichkeit, aber mich bewegte dabei die Angst, abgewiesen zu werden, weil ihr meintet, ich wäre vielleicht ein Mensch mit dunkler Seele.“
Sehr wohl erkannte der Kanshouren in diesem Augenblick, dass dem nicht so sei.
„Schon gut, schon gut, wo de peng you. Ich sehe ja, dass du in Not bist und keinesfalls wirst du abgewiesen, sicher wirst du mir gleich erzählen, dass du einen Vogel bei dir hast, der dir freiwillig zugeflogen ist.“
„Ja genau, das ist die Wahrheit. Woher..?“
„Jinlai – nun komm schon herein“, unterbrach ihn der Mönch. Lachen, Wohlwollen und ein wenig Ungeduld lag in seiner Stimme. Mit seiner Rechten griff er den Arm des Wanderers und zog ihn über die Schwelle.
„Mein Name ist Shou,“ sprach der Diener, als er dem Neuankömmling behilflich war, den Käfig vom Rücken abzunehmen und die Schlingen der Beutel über den Kopf zu ziehen.
„Gewiss nahmst du heute noch keine Mahlzeit zu dir?“
Nun waren diese Worte zu dieser Tageszeit zwar ungewöhnlich, aber doch höflich und vor allem für den ausgehungerten und ausgemergelten Bauern verlockend. Dem Wanderer zog sich der Magen zusammen. Bei dem Gedanken an eine heiße, hühnersalzige Suppe, geschmorte würzige Pilze, gedünstete saftige Auberginen und einer reichlichen Portion von knusprigen Nudeln hätte er fast seine Beherrschung verloren. Im Schein des Feuers konnte der Diener nun auch das Vogelbauer genauer betrachten. Er schaute fragend auf.
„Ich bin Yüo“,
krächzte der Erschöpfte.
„Ich bin der Sohn des Bauern Ku von Qamdo. Doch die vergangenen Jahre wohnte ich auf dem Hochland, nahe der Rong-Steppe - und von dort komme ich jetzt zu euch.“
„Und wer ist dies?“,
fragte der Mönch nun doch und deutete auf den Käfig. Der Ankömmling aber zog die Decke von der Voliere und sprach:
„Es ist der Bambusvogel, der mir eines Tages zugeflogen ist.“
Shou streckte seine Lampe dem Käfig entgegen und konnte nun im Schein des flackernden Lichtes das gefiederte Tier erkennen.
„Er ist wunderschön!“
rief er aus, um sich gleich selbst die Hand auf den Mund zu legen.
„Ja, er ist wunderschön und du solltest ihn erst singen hören, doch lasse mich...“
„Ja, ich weiß“,
las ihm der Wächter den Wunsch von den Lippen,
„du bist müde und hungrig. Komm!“
Dem Besucher aber wurde eine leichte, warme Lauchsuppe und ein Krug kühlen Wassers gereicht. Anschließend führte Shou ihn zu einer schlichten Kammer und Yüo fiel sofort auf die Reismatte und in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Der Vogelkäfig aber stand neben ihm.
Der überraschende Gast des Klosters wurde von den Glocken, die zum Gebet riefen, geweckt. Ihr Klang war eindringlich und von fünf Tönen bestimmt. Der Zhong Shou stand im First des Glockenturmes und schlug mit der Stange aus Eisen abwechselnd gegen die Bronzen, die an zwei sich kreuzenden Querbalken befestigt waren. Es war die Stunde des Drachens und die Sonne würde bald über den Horizont kriechen. Die Tür zu Yüos Kammer öffnete sich leicht und durch den Spalt schaute ein schmales Gesicht.
„Erhebe dich, du willkommener Gast, du Fremder unter neuen Freunden, du Wanderer mit dem gefiederten Begleiter, denn wir wollen die Götter preisen.“
Yüo fuhr hoch und rieb sich mit den Knöcheln seiner Finger die müden Augen. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass der Tag immer noch im leichten Grau verharrte.
„Aber bin ich nicht gerade erst angekommen und habe doch höchstens drei oder vier Stunden geschlafen?“
Nun sprang die Tür vollends auf und das Licht des Lampions erfüllte den Raum ganz. Das schmale Gesicht entpuppte sich als ein gutmütiger, alter und ausgemergelter Mönch in schlichtem, rötlichem Gewand. Seine Augen aber gaben Wärme wie die Flammen eines Hüttenfeuers in kalter Nacht. Die spitzen Backenknochen waren mit runzeliger und brauner Haut wie aus Leder überspannt. Die Nase war so platt, dass sie sich kaum vom Gesicht abhob. Dieses aber schien dem Erwachten weise und von innerem Licht gespeist. Auch wenn die Lippen des Mönchen schmal wie nur ein einfach geflochtenes Hanfseil waren, so wusste Yüo sicher, dass niemals ein böses Wort über sie kommen konnte. Das Haupthaar fiel dünn und doch immer noch pechschwarz bis halb über die Ohren. Mit den Fingern der linken Hand fuhr sich der Mönch durch den Spitzbart.
„Mein Name ist Bang-Zhu, wie du unschwer erkennen kannst“, rief er lachend und fuhr mit ernster, aber gespielter Miene fort: „Drei Stunden? Oh nein, zwei Tage und zwei Nächte hast du geruht wie im Schoß der Götter! Du musst sehr lange gewandert sein. Ich habe deinem schönen Vogel ab und zu ein paar Körner in den Napf gelegt und ihn mit frischem Wasser versorgt. Doch nun komm, dass du dich frisch machst und dich kleidest. Wir wollen beten und essen und dann will ich dich dem Tempelfürsten vorstellen.“
„Zwei Tage und zwei Nächte?“
Yüo hatte es fast herausgeschrien.
„Sind sie noch da?“
„Ich weiß nicht, wen du meinst. Aber bevor wir weiter darüber sprechen, sage mir doch bitte, wie dein Name ist!“
„Oh, verzeih. Natürlich.“
Yüo war aufgesprungen und versuchte, mit raschen Handbewegungen seine Kleider in Ordnung zu bringen. Er verbeugte sich leicht und sprach:
„Ich bin Yüo, der zweite Sohn des Bauern Ku. Ich stamme aus der Provinz Sichuan und wohnte dort in der Stadt Qamdo. Dann aber verschlug es mich in die Provinz Qinghai ...“
„Schon gut, schon gut“,
unterbrach in Bang-Zhu.
„So genau wollte ich es gar nicht wissen.“
Ein schelmisches Grinsen lief ihm über Mund und Augen.
„Von wem nun wolltest du wissen, ob sie noch hier bei uns sind?“
„Ich meinte den Mönchen Luanxing und seine beiden Begleiter – ihre Namen fallen mir gerade nicht ein.“
Der greise Mönch hob seine Augenbrauen und fragte:
„Du meinst Guang und Jiao?“
Yüo nickte eifrig.
„Kennst du sie denn?“
„Oh ja, Herr. Sie waren auf dem Weg hierher an meiner Hütte vorbeigekommen.“
„Bist du denn ihretwegen gekommen?“
„Nein“,
antwortete Yüo zunächst unvermittelt, sagte dann aber:
„Ja doch, auch ihretwegen, aber nicht nur. Auf jeden Fall hoffte ich, sie hier noch einmal zu treffen.“
In Schmalgesichts Augen und um seine Mundwinkel lagen nun die stillen Worte einer Frage. Der noch nicht ganz ausgeschlafene Gast fasste in sein Obergewand und schien in einer der Innentaschen etwas zu suchen. Gespannt schaute ihm der Mönch zu.
Dann aber zog der Ankömmling ein zerknittertes Pergament hervor.
„Und?“
Der Mönch hob seine knochigen Schultern.
„Dieser Bogen war für den Luanxing und seine Begleiter gedacht.“
„Dann wusstest du also, dass du sie verfehlen würdest?“
„Wieso? Nein, ich wusste es nicht.“
„Aber warum hast du ihnen dann eine Botschaft geschrieben, wenn du meintest, sie anzutreffen. Du hättest es ihnen dann doch selbst sagen können.“
„Weil...“,
Yüo hielt inne und dachte bei sich, wie durchtrieben dieser so harmlos wirkende Mönch doch war. Eigentlich ging ihn das doch gar nichts an. Er wollte doch nur wissen, welchen Inhalts das Pergament war. Doch offen zu fragen, verbot ihm die Sitte. Yüo aber hatte das Stück Papier wieder im Gewand verschwinden lassen. Während er so überlegte, brach der Mönch in ein herzhaftes Gelächter aus und Tränen flossen ihm über die knochigen Wangen. Als der junge Bauer das so hörte und sah, wie sich der dürre Mönch schüttelte, gab er sich geschlagen und rief:
„Na gut, sei es drum. Es ist eine Rezeptur!“
Als der junge Bauer vom Hochland sich im Nebenraum am Trog wusch, als er sich mit den bereitgestellten Kleidern neu richtete und während er sein Haar steckte, berichtete Yüo dem Mönch von der Begegnung mit dem Luanxing und seinen Begleitern. Auch von der Hühnersuppe erzählte er, und dass er das Rezept auf die Bitte seiner Besucher hin aufgeschrieben hatte. Als Yüo seine Verrichtungen beendet hatte, trat der Mönch aus dem Türrahmen und bat um das Pergament. Yüo griff erneut danach und reichte es ihm. Schmalgesicht betrachtete es bedächtig.
„Das liest sich fein ... und sie schmeckt wirklich so gut?“
„Oh ja“,
der Angesprochene fuhr mit der Zunge über seine Lippen.
„Sie mundet phantastisch.“
„Gut, gewiss wird der Luanxing ab und zu das Kloster aufsuchen, denn er gehört ja zu uns. Mit deiner Erlaubnis werde ich das Pergament verwahren und behüten wie meinen eigenen Augapfel, um es ihm zu geben, wenn er kommt.“
„Aber...“
„Ja, ich weiß, du möchtest für eine Zeit bei uns bleiben und hoffst so, den Wandermönch selbst hier anzutreffen. Aber wie dem auch sei, mit deinem Einverständnis würde ich die Rezeptur gerne auch unserem Küchenmeister geben.“
„Ja, tue das, aber...“
„Ja?“
„... es ist nicht gewiss, ob sie gleich so gut schmeckt, wie wenn ich sie koche.“
„So? Warum meinst du das? Bist du etwas Besonderes unter dem Himmel?“
„Oh nein, du missverstehst mich. Ich meine nur, es sind nicht allein die Zutaten, wie Knoblauch, Salz, Gemüse und Fleisch, die eine Suppe schmackhaft machen.“
„Sondern?“
„Es ist wichtig, mit der Suppe eins zu werden, etwas von der eigenen Seelenenergie, den Wünschen und Sehnsüchten, Hoffnungen und Visionen, von der Phantasie und den Träumen mit hineinzugeben.“
Der Mönch wusste nicht, ob er lachen oder ernsthaft nicken sollte. Doch als er dem Yüo in die Augen schaute, entschied er sich für das Letztere und sprach:
„Ich bin kein Koch und kenne mich nicht damit aus. Mag sein, dass du Recht hast. Ich werde den Küchenmönch darauf hinweisen.“
Der gütige Klosterbruder tat das Rezept in die Innentasche seines Gewandes. Dann erzählte der Alte noch, dass der reisende Mönch und seine Begleiter vor sieben Tagen vom Kloster aufgebrochen waren.
„Luanxing zog nach Osten an den Blauen See und die jungen Männer machten sich auf nach Norden zum Kloster bei der Stadt Dunhuang. Von dort wollten sie entlang des Qaidam-Tales weiter wandern, um die Wüste Taklamakan zu überwinden und so an den großen Fluss Sind zu gelangen. Du hättest eigentlich auf sie treffen müssen. Bist du?“
„Aber nein doch, sonst hätte ich ja nicht nach ihnen gefragt.“
„Ja, natürlich, verzeih.“
Yüo nickte vergebend und fragte dann Bang-Zhu:
„Ist dir der Chang Tou-fa bekannt?“
„Chang Tou-fa?“,
wiederholte dieser langgezogen und fragend.
„Ja, er hat langes, schwarzes Haar und kommt vom Schilfsee. Er ist Fischer und kauft manchmal in Golmud Dinge für seinen Beruf. Und manchmal, so erzählte er mir, kommt er dann auch hier hinauf zum Kloster.“
„Ah, ja“,
erinnerte sich jetzt Schmalgesicht,
„ein oder zweimal habe ich ihn hier in den heiligen Mauern gesehen. Warum fragst du?“
„Nun, eigentlich nur so. Ich kenne ihn und er hatte mir von der neuen Lehre berichtet, die Lehre des Prinzen von Sind und dass er hier bei euch davon erfahren hatte.“
Der Mönch fragte nicht weiter, war sich aber sicher, dass Yüo nicht alles über sich und den Fischer vom Schilfsee erzählt hatte. Bang-Zhu führte den Gast in den Gebetssaal und wies ihm einen Platz inmitten der Schüler an. Einer der Mönche sprach Worte, auf welche die Gemeinschaft antwortete. Yüo verstand nur die Hälfte und war ein wenig verwirrt. Doch Schmalgesicht nickte ihm von seinem Sitz an der Flanke des Saales verständnisvoll und ermutigend zu. Nach einer Weile wurde es still in dem Raum. Nur der eigene Atem war zu hören. Bis dann der Betmönch in die Hände klatschte, woraufhin sich alle gegenseitig umarmten. Auf Yüo schienen es die Brüder besonders abgesehen zu haben. Er ließ sie gewähren und tat es ihnen bald gleich. Danach schritten alle gemeinsam zum Frühmahle. Der Neuankömmling aber war so ausgehungert, dass er noch um eine zweite Schale Reis bat. Sie wurde ihm gerne noch einmal gefüllt.
Beim Herrn des Klosters (1) (25)
Der Herr über die heiligen Mauern nahm sich viel Zeit für den Mann aus der Provinz Qaidam. Doch vor der Unterredung hatte der Da Daoshi auch diesmal ein Gebet gesprochen. Er kannte den Yüo ja schon ein wenig von den Erzählungen seines Gesandten und wollte deshalb besonders empfänglich für die gehörten Worte sein. Als ihm der junge Mann gegenübersaß, deuchte den großen Lehrer, er wäre ihm schon einmal im Leben begegnet. Es war mehr ein Gefühl, als dass es Gewissheit war. Jedenfalls hatte ihn beim ersten Anblick eine große liebende Fürsorge für ihn ergriffen. Der Herr beschloss aber bei sich, dies nicht offen zu zeigen, geschweige denn, darüber zu reden. Yüo berichtete aus seinem Leben, seinem Abschied von den Eltern und von dem Dasein in der Einsamkeit am Rande der Rong-Steppe. Er gab Auskunft über seine Erkenntnisse und Fähigkeiten, über seine Wünsche und Sehnsüchte, seine Lebensfragen und das, was er noch erlernen wollte, und warum er die lange Reise nach Golmud auf sich genommen hatte. Er sprach davon, vielleicht doch länger im Kloster bleiben zu wollen. Allein seine Ängste und Schwächen erwähnte er nicht greifbar, sondern eher allgemein. So in dem Sinne, dass ja jeder Mensch Fehler hätte und so auch er. Ebenso erzählte Yüo nicht von seinem Unfall in den Kindheitstagen. Als er mit seinen Ausführungen zum Ende gekommen war, sagte der Abt:
„Du hast ihn also tatsächlich gefangen!“
„Wen, Herr?“
Yüo war vollkommen überrascht.
„Nun, den Vogel, auf den du gewartet hast.“
Für einen Moment wusste der junge Bauer nichts zu sagen. Zur Überraschung gesellte sich auch noch Verwirrung.
„Oh Laoshi, du weißt davon?“
„Aber natürlich. Luanxing hatte mir von eurer Begegnung berichtet.err
Sprich zu mir über den Vogel, den du mit in das Kloster gebracht hast“, forderte der Erhabene den Sohn des Bauern Ku nun mit sanfter Stimme auf und er fügte hinzu:
„Dieses prachtvolle Geschöpf hat die Klostergemeinschaft ziemlich in Aufruhr gebracht. Denn einen solchen Vogel gibt es eigentlich in ganz Zhong Guo nicht. Es war deshalb nicht zu übersehen, dass du in Begleitung kamst, und ...“,
bei diesen Worten zogen sich leichte Lachfalten um den Mund und seine Augen zwinkerten,
„ ... du musst wissen, die wachhabenden Mönche sind sehr gesprächig.“
Der Tempelfürst schaute ihn offen an. Yüo aber brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was sein Gegenüber wohl mit dem letzten Satz gemeint haben könnte. Dann begann er, die Geschichte von dem Bambusvogel zu erzählen. Wie er ihm das erste Mal begegnet war, bis hin zu dem Streit mit seinem Freund Chang Tou-fa. Nur von seinen Nöten sprach Yüo nicht. Als er aber an das Ende seiner Erzählungen gekommen war, blitzten die Augen des Da Daoshis auf und er fragte:
„Bist du nicht eigentlich seinetwegen hierher gekommen? Ich meine, wegen des Vogels?“
„Aber nein, Herr, wie kommst du darauf?“
„Nun, du hast nicht nur die anstrengende Reise nach Golmud auf dich genommen, sondern sie auch noch durch den gewaltigen Käfig erschwert. Wenn es nur um dich ginge, wärest du alleine gekommen, überhaupt, warum gerade dieses Kloster?“
Yüo erzählte alles Mögliche und gab viele wohlklingende Gründe für sein Kommen nach hier an. Auch von der beabsichtigten Befragung des Orakels und der Wende in dieser Geschichte sprach er. Nur von dem, was ihn so sehr bedrängte, sprach er auch diesmal nicht. Der große Meister hörte sehr aufmerksam zu. Er nickte, er strich sich über das Kinn, er faltete die Hände und legte sie an die Lippen, er erfuhr Neues und erspürte das Verschwiegene, er fragte und er blieb stumm, gab mit seinen Blicken Antwort und ließ die Worte des jungen Mannes in sein Herz eindringen. Die Unstimmigkeit war nicht zu überhören, ebenso aber auch nicht die Not und der unausgesprochene Wunsch nach Befreiung. Der Da Daoshi schaute tiefer und sah in dem grob gehauenen Stein das fertige Kunstwerk. Sie sprachen lange miteinander. Als dann der Gong zur nächsten Mahlzeit vom Klosterhof ertönte, sprach der große Lehrer zu Yüo:
„Du möchtest also eine gewisse Zeit im Kloster verbringen, um zu lernen und Antworten für dein Leben zu finden? Nun, es ist nicht jedem beschieden, in das Kloster aufgenommen zu werden. Du musst es wirklich wollen und ich muss mich mit den Brüdern beraten. Willst du länger bleiben, oder ist das Kloster nur eine kurze Station auf deinem Wege? Willst du vielleicht nur den Winter über hier bleiben? “
„Wenn ich es recht bedenke, oh Herr, dann soll es doch für längere Zeit sein.“
„Gut.“
„Wann erfahre ich, ob ich bleiben darf oder nicht?“
„Nun, ich muss darüber ein oder zwei Nächte schlafen und ich muss - wie schon gesagt - wissen, was die Brüder darüber denken. Ich vertraue dich solange dem Bang-Zhu an. Er wird das tun, wozu er berufen ist.“
Der Da Daoshi hatte längst innerlich für sich seine Entscheidung getroffen, wobei ihm selbst nicht ganz klar war, weswegen. Aber seinem Gegenüber tat er vollkommen unentschlossen. Er bedeutete dem jungen Bauern sich zu erheben, denn die Unterredung galt als beendet. Auch der Abt erhob sich und klatschte in die Hände. Schmalgesicht erschien im Torbogen des heiligen Raumes. Der Herr aber sprach zu Yüo gewandt so:
„Bang-Zhu war es, der dich heute Morgen weckte und zu mir brachte. Er wird dich nun auch wieder hinausführen.“
Yüo wurde nun angehalten, sich im Kloster durch sein Leben mit einzubringen. Er war Gast bei den Gebetsstunden, dem Lernen heiliger Texte und lernte die Umgangsformen; er wurde eingeladen, mit den anderen zu meditieren, zu kalligraphisieren und den Tee würdevoll zuzubereiten. Mit der Gruppe der Novizen zog er auch nach draußen, um die Klostermauern dort neu rot zu tünchen, wo Regen, Sonne und Frost der Farbe zugesetzt hatten. Mit dem alten Bang-Zhu ging er auch hinab in die Stadt, wo ihm das Treiben des Volkes wie das Tosen des großen Meeres erschien. Am zweiten Tag, als sie die Stufen zum Tor des Klosters hinaufstiegen, sagte sein Begleiter:
„Morgen fällt die Entscheidung, ob du bleibst oder dein Weg dich weiterführt. Wisse, wenn der Da Daoshi sich für dich entscheidet, dann kannst du nicht im Kloster selbst wohnen. Denn du hast deinen gefiederten Freund bei dir. Als Besucher mag er bleiben, aber über eine längere Zeitspanne nicht. Es kommen immer mehr Suchende, um für ein oder zwei Tage bei uns zu bleiben. Der Platz wird eng. Du musst dir also ein Heim in Golmud suchen.“
Es war nicht ganz die Wahrheit, die der Mönch da von sich gegeben hatte. Sehr wohl war Platz für einen Vogel und für einen Käfig. Es war vielmehr die Tatsache, dass dieses wunderschöne Geschöpf eine zu große Ablenkung für die Brüder bedeutete. Bang-Zhu hielt es aber für ratsamer, nicht so offen darüber zu reden.
Mit Bangen, aber auch mit Ruhelosigkeit hatte Yüo auf den Schiedsspruch des großen Lehrers gewartet. Der Da Daoshi schaute ihm tief in die Augen. Yüo konnte aus seinem Gesicht nicht ablesen, was nun folgen sollte. Doch als der Meister begann zu sprechen, an der Wahl der Worte und auch an dem Ton der Stimme, erkannte der junge Bauer, wie die Entscheidung gefallen war.
„Wir wissen, dass du ein großer Suchender bist“,
sprach der Lehrer und fuhr fort,
„und wir haben gesehen, wie eifrig du in den wenigen Tagen bereit warst, zu lernen und zu arbeiten.“
Yüos Herz richtete sich auf und er hörte weiter, was der Da Daoshi zu sagen hatte. Allerdings ging es nun in eine etwas andere Richtung.
„Verborgen geblieben aber sind mir auch nicht deine schwachen Seiten. Ist dir bewusst, dass du solche hast?“
Yüo zögerte. Nicht, weil er diesmal lügen wollte. Vielmehr wollte er zu erkennen geben, dass er bewusst sagt, was er nun zugeben wollte. Mit errötetem Gesicht sprach er:
„Ja Herr, ich habe Dinge an mir, die nicht gut sind und ich möchte noch viel mehr erkennen.“
Der Herr des Klosters lächelte bis in das Herz des Yüo und meinte:
„Du wirst drei Winter und drei Sommer bei uns bleiben, wenn du es auch willst.“
„Ich will!“
„Gut. Mögest du in dieser Zeit erkennen, was die Götter mit dir vorhaben. Vieles hast du schon gesehen und manches mit den anderen praktiziert. Du wirst nun Zeit genug haben, alles genauestens zu lernen und du hast Zeit zum Gebet. Arbeiten wirst du und ruhen; du wirst im Tempel weilen, aber auch mit den anderen Schülern in das Land geschickt werden; du wirst dich verausgaben können, aber auch ruhen dürfen im Geist. Ich wünsche dir“,
und der Erhabene hob leicht die Augenbrauen,
„die Antworten auf deine vielen Fragen. Achte auf deinen wunderbaren, schönen gefiederten Sänger. Ich hoffe du weißt, was du an ihm hast.“
Bei diesen Worten machte das Herz des Yüos einen Sprung. Denn nicht zum ersten Male vernahm und empfand er sie als Mahnung. Nun wusste er, dass dem großen Meister seine wirklichen Sorgen nicht unbekannt waren. Jetzt war er doch froh, dass er auf die Stimme seines Herzens gehorcht hatte. Ihn durchflutete Wärme und Dankbarkeit. Noch am selben Tag begann Yüo, in der Stadt Golmud nach einer Bleibe zu suchen. In den schmalen Gassen, abseits der Hauptwege, roch es nach verbranntem Holz, geschmorten Pilzen, gebratenem Hühnerfleisch und scharfen Gewürzen. Hier und da war ein Hämmern zu hören, ebenso das Sägen von Baumstämmen und der schwere Atem eines Blasebalgs, das Murmeln der Alten und das Rufen der Kinder. In den Winkeln der dicht zusammengerückten Hütten und Häuser hatten sich Laub, altes Pergament und Asche gesammelt. An manchen Wänden der Häuser, aus gelben Lehmziegeln erbaut, rankten Reben des roten Weins. In den Höfen und am Brunnen spielten Kinder, webten Frauen ihre Teppiche, tranken die Alten Tee und dösten Hunde mit struppigem Fell. Bei einem der Silberschmiede fand Yüo einen Raum, der ihm geeignet schien. Über den Preis wurden sie sich schnell einig. Der Handwerker erhielt zwei Schnüre mit jeweils zwölf Schneckengehäusen und fünf bronzene Münzen. Die Stube lag – eine schmale knarrende Stiege hinauf – über der Werkstatt des Künstlers.
Dunkle Wolken (26)
„Wirst du alleine hier wohnen oder hast du ein Weib bei dir?“
fragte der Duangong den Neuankömmling.
„Nun, mein Herr, ein Weib kann ich nicht mein Eigen nennen, aber oben im Kloster befindet sich noch ein fast mannshoher Käfig, in dem sich mein Bambusvogel befindet. Ihn werde ich mitbringen.“
„Ah so, du wirst also einer der Novizen sein.“
Die Worte klangen nicht gerade freundlich.
„Ist es dir nicht recht, Herr, wenn du einen Klosterschüler beherbergen wirst?“
„Doch, doch. Es ist nur ...“
„Ja?“
„Ihr Mönche bettelt mir zuviel. Kaum kann ich durch die Strassen dieser Stadt wandeln, ohne um eine Münze oder anderes gebeten zu werden und wenn ich nichts gebe, dann habe ich ein schlechtes Gewissen.“
„Nun, dafür betet die Klostergemeinschaft auch jeden Tag für diese Stadt und bittet um den Schutz der Götter.“
„Ja, ja, ist schon Recht.“
Der Silberschmied deutete mit dem Wink seiner Hand an, dass er darüber nicht weiter sprechen wollte.
„Du erwähntest einen Bambusvogel? Ich habe nie von einem solchen Geschöpf gehört. Du bringst ihn mit hierher?“
„Herr, wie ich gehört habe, gibt es einen solchen Vogel wohl nur einmal. Du wirst sehen, er ist wunderschön. Ich bringe ihn morgen mit.“
Täglich nun nahm der neue Schüler den Weg hinauf zum Kloster auf sich, während der Niau-Zhuzi im Vogelhaus und in der Klause zurückblieb. Anfangs begrüßte er den Heimkommenden mit lieblichem Gesang. Yüo ließ sich dann vor dem Käfig nieder und erzählte, was er Neues gelernt hatte. Er gab ihm frisches Futter, goss neues Wasser in die Schale und sagte ihm, wie schön er sei. Doch mit der Zeit war es der Schüler leid, nach dem Studium der heiligen Schriften, der körperlichen Arbeit und dem Heimweg auch noch dem Niau-Zhuzi alles zu berichten und für ihn zu sorgen, wie es angebracht gewesen wäre. So verstummte der schöne Sänger mehr und mehr. Viel zu spät bemerkte Yüo, dass hinter dem Fenster des sehr nahen gegenüberliegenden Hauses, auf der anderen Seite der schmalen Gasse ein unangenehmer dürrer, alter Zeitgenosse schlich und mit aufdringlichen Augen nach dem Vogel gierte. Denn sehr wohl hatte der Fremde aus Qinghai nicht nur innerhalb der Klostermauern, sondern auch in der Bergfestung Aufsehen erregt und die Schönheit des Bambussängers war so manchem nicht verborgen geblieben. Neider gab es genug. Allein, der Sohn des Bauern Ku spürte es nicht. War er sich seines Besitzes so sicher? War sein Herz an diesem Punkte blind?
Den Lehrern war es wichtig, den Novizen das bewusste Leben im Hier und Jetzt zu vermitteln. Nicht grübeln über Vergangenes, nicht sorgen über Zukünftiges und sich lösen von allen inneren Bindungen und Vorstellungen. Dann, so hieß es, könne die Allmacht ohne das eigene Zutun das bewirken, was der Einzelne sich für sein Leben wünscht. Es sei die gleiche Gelehrtheit, die eine Blume blühen, sich vermehren und verwelken ließe, ohne dass diese etwas dazu tat. Von ganzem, tiefem Herzen wünschte sich der Sohn des Bauern Ku dieses Leben im Fluss der Weisheit und den gleichzeitigen Verzicht auf Selbstzügelung, Gewalt und Anstrengung. Gerne würde er einem
Boot gleichen, dessen Segel im Wind den Weg bestimmt. Gerne hätte er die Ruder zur Seite gelegt und aufgehört, selbst zu kämpfen. Doch war es scheinbar noch ein weiter Weg.
Zu den Unterrichtungen gehörten auch das Wissen über die Bedeutung der Musik, das Verfassen von Liedern und das Spielen der Instrumente selbst. Manchmal zog die Schar der Novizen hinab vor die Tore der Stadt, wo sie im Reiten der Pferde und Kamele unterrichtet wurden. Vieles meinte Yüo schon gewusst zu haben, oder gar zu beherrschen. Aber die Zeit im Kloster zeigte ihm etwas anderes.
Eines allerdings hatten Lehrer und Schüler gemeinsam, eines verband sie, eines machte sie gleich. Daoshis und Novizen waren ohne Weib. Aber niemand wusste, wie der andere tief in seinem Herzen wirklich darüber dachte. Sie hatten geschworen, auch ohne diese Lust zu bleiben, denn ihre Aufmerksamkeit sollte ungeteilt den Göttern und dem Dienst an den Menschen gelten. Auch Yüo war dieser Schwur abverlangt worden. Jedoch nicht alle Vorsteher der Klöster im Reich der Mitte dachten so. Aber der Tempelfürst von Golmud gehörte der Lehre der Keuschheit an.
Der erste Winter in Golmud brachte merkwürdige und beängstigende Veränderungen in den Verschlag über der Silberschmiede. Der Gesang des Niau-Zhuzi war fast kaum noch zu hören und Yüo verzweifelte unter Angstschüben. Sein nächtliches Auffahren von der Reismatte nahm zu und er begann, sich selbst zu hassen. Manchmal wusste er nicht mehr, ob er Worte nur gedacht, oder sie laut ausgesprochen hatte. Manchmal meinte er, er würde verfolgt und wich dann in die kleinsten Gassen der Stadt aus. Manchmal musste er weinen und wusste nicht warum. Seine Seele glitt ab in die Hölle, den Ort, an dem es weder Frieden, noch Licht, noch Hoffnung gab. Diese seine Veränderung wurde auch im Kloster unter den Lehrern und Mitschülern bemerkt. Aber von allen litt er an sich selbst am meisten. So dachte der junge Bauer jedenfalls, gleichwohl er das Verstummen des Bambussängers natürlich bemerkte.
Oft nahm Yüo seine Dizi und zog an freien Tagen oder noch spät nachts hinaus vor die Stadt nahe der Gräberfelder, um wieder zu sich zu finden. Auf der Flöte spielte er lang anhaltende Laute, denen dann kurze und trällernde Töne folgten. Dieses Instrument befähigte den Menschen, mit den Göttern zu reden und sowohl den Gang durch das Schattenreich und die Wiederkehr des keimenden Lebens zu begleiten. Unter Tränen flehte der Sohn des Bauern Ku deshalb zu den Sternen, dass er zur Ruhe käme. Hatte er sich die Zeit im Tempel nicht gerade als Zeit der Findung und Umsicht, Gelassenheit und neuer Richtung gewünscht und erhofft? Nun war es noch schlimmer geworden. Waren nicht auch der Grund hier zu sein, die seltsamen Begegnungen zuerst mit dem wunderschönen Vogel und später mit dem Tempelpriester und seinen Begleitern? Hatte ihm sein Herz einen bösen Streich gespielt? Hätte er doch das Orakel befragen sollen? Was war aus der Liebe zu dem Bambussänger geworden! Yüo erinnerte die Worte des Händlers Mai und auch die des Da Daoshi noch vor kurzer Zeit. Auch die Auseinandersetzung mit Chang Tou-fa stand ihm vor Augen. Mit Zittern gedachte er der ersten Begegnung mit dem fast unsichtbaren Gast an den heimischen Terrassen. Er spürte die Sonne, nahm die Gerüche jenes damaligen Tages wahr, hörte den Cantus und sank auf die Knie. So fand ihn wenig später Bang-Zhu in der Dunkelheit am Rande des Gräberfeldes.
Die Schlange in uns (27)
Auf dem Weg von Golmud nach Qaidam lag – in einem nach Norden und Osten ausgedehnten Tal - die Siedlung Qarhan. Sie war von einer mit Zinnen besetzten Mauer umgeben, wie auch alle anderen der größeren Orte im Reich der Mitte. Inmitten der Stadt befand sich ein Park. Er war kunstvoll angelegt, doch war er zu dieser Jahreszeit ein wenig seiner Schönheit beraubt. Kahl die Bäume, kahl die Sträucher und um ihre Blüten betrogen. Die Stauden, Wiesen und Wege waren bedeckt von Laub. Außerhalb der Stadt lagen die herbstlichen Felder. Zu dieser Zeit waren sie abgeerntet und abgebrannt und lagen brach, wartend auf den Winter.
Mit der Erlaubnis des Tempelherrn wollten sich Bang-Zhu und sein Schützling auf Kamelen nach dort hin begeben. Die Reise würde einige Tage dauern, weshalb sich beide mit Pemmikan und Trockenobst versorgten und warme Kleidung anlegten. In Qarhan lebte der Heiler Zhiliao. Dieser war über die Grenzen seiner Stadt hinaus sehr bekannt dafür, die Fähigkeit zu haben, ins Innere der Menschen blicken zu können. Allein durch Zuhören und heilende Worte konnte er ihnen aus ihrer Not helfen. Yüo wusste nicht mehr ein noch aus und war bereit, jede Hilfe, die sich ihm bot, anzunehmen. So hatte er sich auf den Vorschlag Bang-Zhus eingelassen. Auch der Tempelfürst war mit diesem Ausritt einverstanden. Sie ritten auf Kamelen. Diese hatten bereits begonnen ihr braunes, struppiges und kurzes Fell gegen die dichte, wollige und sandgraue Winterdecke zu tauschen. Im Herbstwind sah ihr Haarkleid ungepflegt, zerzaust und gar zerlumpt aus. Doch Zecken tummelten sich wegen der Jahreszeit nicht mehr in ihrem Fell. Bang-Zhu und Yüo benötigten für ihre Reise fünf Tage und schwiegen meist während des Ritts. Dann war nur der eintönige Klang der Bronzeglocken, die den Trampeltieren um den Hals gebunden waren, zu hören. Abends am Feuer sprachen sie ausführlich über dieses und jenes, über die Götter und die Welt. Die Reise nach Qarhan war nicht ganz ungefährlich gewesen, denn beinahe hätte eine giftige Steppennatter Yüos Kamel in die Ferse gebissen. Dieses aber war schneller gewesen und hatte dem Reptil mit einem kurzen, heftigen und gezielten Schlag seines gespalteten und tellergroßen Fußes den Kopf zertreten. So kamen sie hinab zu der Stadt und ritten die Straße mit den knienden Elefanten entlang durch das Südtor. Es war unbewacht. Von dort gelangten sie durch einige Gassen zu dem Park, an dessen nördlichem Rande – am Ende einer Kastanienallee – das Haus des Seelenarztes lag. Jenseits des Parks aber erstreckte sich das Weberviertel. Den Göttern sei es gedankt, war Zhiliao nicht fort, sondern in seinem Heim und hatte auch Zeit für die Weitgereisten. Sie banden ihre Kamele an einen der wuchtigen Bäume und traten in das wohl erwärmte Haus des Seelenkundigen.
Als der Heiler sich am Beginn der Unterredung nach dem Ergehen auf dem Wege erkundigte, erzählte der Bang-Zhu und Yüo auch von der Steppennatter und deren Ende. Dann erkundigte Zhiliao sich nach seinen Eltern und nach seinen Geschwistern. Yüo erzählte bereitwillig, was es zu erzählen gab. Der Heiler bat anschließend seinen Gast, über sich selbst und aus seinem Leben zu erzählen. Das, was ihm, dem jungen Mann, wichtig war, sollte so zur Sprache kommen. Auch hier folgte Yüo seinem Gastgeber. Der Heiler aber fragte dann und wann nach und schwieg, wenn Yüo nicht zu antworten vermochte und nach Worten suchte. Dieser sprach auch über den Sturz aus der Kiefer in jungen Jahren, über die Ängste seiner Ma, als sie ihn unter dem Herzen trug. Über dieses und jenes redete Yüo, wie er von zu Hause fortzog und sich seine Hütte am Rande der Rong-Steppe baute und er berichtete auch von dem wunderbaren Bambusvogel. Verhalten aber sprach er von den Veränderungen in seinem Herzen. Ebenso hätte er sehr gerne von der Lust nach einem Weibe geredet, von seinen Phantasien, von seinen Vorwürfen, Zwängen und Ängsten. Es war ihm unmöglich, sein Mannsein zu offenbaren, denn in der Gegenwart seines klösterlichen Freundes getraute er sich nicht eine Silbe davon zu sagen. Beide hatten ja einen Eid der Keuschheit abgelegt. Allein seine Augen schienen zwischen den ausgesprochenen Worten davon zu sprechen. Außerdem hatte Yüo manchmal Angst, etwas ihm Unangenehmes auszusprechen, weil es dann – so empfand er es – noch mehr Macht über ihn gewann. So war es ihm auch zu schmerzhaft, zu betrübend, zu gewagt, weiter und tiefergehend über sich und die Verbindung zum Bambusvogel zu sprechen. Sicher war es auch dazu noch Angst vor der Wahrheit, die ihn davon schweigen ließ. Dann sprach der Zhiliao ganz unvermittelt, wobei er abwechselnd erst Schmalgesicht und dann den jungen Novizen anschaute:
„Ihr hattet von der Schlange berichtet, die euch auf der Reise gefährlich werden wollte, die aber von einem der Kamele zertreten wurde.“ Bang-Zhu aber schwieg, meinte er doch zu wissen, dass diese Bemerkung mehr seinem Anbefohlenen galt, als ihm selbst. So schaute er zur Seite, zu dem Yüo hin. Dieser aber legte seine Linke auf die Brust, als wollte er fragen, was denn nun er damit zu tun habe. Als aber auch der Heiler kein Wort sagte, meinte der Sohn des Ku etwas kleinlaut:
„Ja, Herr, das ist richtig, so haben wir es beide erlebt. Warum aber kommst du nun darauf zurück?“
„Nun, wie die Kreatur, so sind auch wir Menschen wohl in der Lage, das Böse von außerhalb zu besiegen, zu töten oder zu verbannen, aber die Schlangen in uns, die inwendigen Dämonen, die mit unserer Seele verschmolzenen Drachen können wir nicht so bezwingen. Sie alle lassen sich nicht so einfach vertreiben und sich auch nicht niederringen.“
Für eine zeitlang sagte niemand etwas und Yüo bemerkte, wie auch Bang-Zhu nun erstaunt zu dem Seelenarzt hinschaute. Dieser aber fuhr dann nach einer kleinen Weile fort:
„Je mehr wir versuchen, ihnen den Garaus zu machen, sie zu töten, sie davon zu jagen, oder die Flucht vor ihnen zu ergreifen, je mehr gewinnen sie Macht, bedrängen und herrschen über uns.“
„Jian guai bu guai qi guai zi bai – wir müssen dem Furchtbaren ohne Furcht begegnen, dann verschwindet es von alleine. ”
Nun fragte der Heiler den Yüo:
„Welches ist die Schlange in dir und welche Dämonen plagen dich? Was glaubst du, ist mit dir geschehen, dass du dich so verändert hast?“
„Ich weiß es nicht, Herr, aber einmal, in meiner Verzweiflung, habe ich nach mir selbst, in meinen Arm, gebissen. Das ist alles so schrecklich. Ich bin – so scheint es mir – nicht mehr ich selbst.“
Sehr wohl spürte der Arzt, dass Yüo im Begriffe stand, sich selbst zu hassen. Nicht ganz, aber den Teil in ihm, der etwas tat und begehrte, was die andere Seite verbot. Aber er sagte es dem jungen Mann nicht. Dann fragte er ihn:
„Leidest du auch manches Mal unter gewissen unnützen Wiederholungen?“
Yüo durchfuhren diese Worte wie ein Schwert. Woher konnte der Seelenheiler dieses wissen?
„Ja, Herr. Das stimmt und ich schäme mich dafür. Aber es war nicht immer so.“
Er erzählte von dem Türriegel seiner Hütte am Rande der Rong-Steppe, den er manchmal mehrmals nachprüfen musste und auch von anderen ähnlichen Dingen, die sich in der vergangenen Zeit auch hier in Golmud verfestigt hatten.
„Und kannst du dir denken, warum das so ist?“
„Nein, Herr, ich habe dafür keine Erklärung. Vielleicht kannst du mir weiterhelfen.“
Zhiliao sah ihn an und sprach:
„So leicht will ich es dir nicht machen. Erzähle doch einmal, wie oft deine Angst, du hättest zum Beispiel die Tür des Vogelkäfigs nicht richtig verschlossen, berechtigt war.“
Yüo überlegte einen Moment und legte seine Stirn in Falten. Doch mit einem leichten Lächeln sagte er dann:
„Keinmal war es so, ich kann mich nicht erinnern. Wirklich, keinmal war es so.“
„Wie ging es dir, nachdem du die Tür oder anderes mehrfach nachgeprüft hast?
„Ich war beruhigt.“
„Siehst du, das ist es. Im Grunde weißt du genau, dass du den Riegel vor die Türe gelegt hast. Ob nun bei deiner heimatlichen Hütte oder deiner Stube in Golmud oder bei dem Käfig deines Vogels. Du gehst nicht zurück, um die Türe vielleicht doch noch schließen zu müssen.“
„Sondern?“
„Die Antwort hast du dir selbst schon gegeben.“
„Mmmh“.
„Weil du innerlich unruhig und ängstlich bist! Aber nicht wegen einer nicht verschlossenen Tür oder dergleichen. Im Grunde ist es etwas anderes, was dich aus dem Gleichgewicht bringt und als Behelf willst du nun die Gewissheit der verschlossenen Tür auskosten. So tust du etwas zu deiner Sicherheit und findest du wieder Ruhe. Aber die Lösung ist es eigentlich nicht, oder?“
Yüo war verblüfft und erschrocken zugleich.
So ging es eine Weile.
Dann meinte Zhiliao gewandt an den jungen Zuhörer:
„Du darfst auch deinen Unfall aus Kindertagen nicht vergessen. Dieser hat dich sehr verunsichert. Denn du fielst und niemand war da, der seine Hand aufhielt, um dich aufzufangen: nicht der Vater, nicht die Mutter und nicht einmal die Götter.“
Yüo und auch Bang-Zhu nickten und der Arzt fuhr fort:
„Denke auch daran, dass du an den Ängsten deiner Ma, von denen du sprachest, Anteil genommen hast, obwohl du noch nicht geboren warst. So fällt es dir schwer, zu vertrauen. Nicht einmal dir selbst traust du und schon gar nicht einem anderen und leider vertraust du wohl auch den Göttern nicht.“
Yüo war nun nicht nur erstaunt, sondern auch erbost und er meinte etwas aufgebracht:
„Aber bin ich doch ein Lernender in einem Kloster. Sollte ich da nicht den Gottheiten vertrauen!“
„Und – tust du es?“
„Mmmh.“
„Nun?“
„Ja, Herr, du magst wohl recht haben. Nur frage ich mich ...“
„Ja?“
„Warum aber sind mein Argwohn und mein Grausen erst aufgekommen, als ich von zu Hause fortzog und vor allem, seit ich im Besitz des Bambusvogels und seitdem ich in dem Kloster von Golmud bin?“
„Ist es so?“
„Ja, ich hatte schon vorhin versucht, es zu erwähnen.“
„Allerdings, aber so deutlich hast du es erst jetzt gesagt.“
„Das stimmt, Herr.“
Zhiliao ließ eine Pause folgen und wartete mit dem, was er zu sagen hatte. Er goss seinen Gästen von dem grünen Cha nach und bat sie, von den Datteln und Feigen und von dem Kürbis zu nehmen. So konnten die Worte, die zu sprechen waren, noch recht geformt werden. Dann aber, nach einer Weile, redete der Seelenarzt so:
„Nun, ich denke, es gibt da dreierlei Gründe. Zum einen hast du dich aus dem Schutz deiner Eltern in die Fremde begeben. Da hattest du niemanden mehr, der für dich die letzte Verantwortung trug und ganz offensichtlich hast du es – als du noch bei deiner Ma und deinem Vater weiltest – nicht gelernt, Belastungen mit dir selbst auszumachen und klare Entscheidungen zu treffen. Im Grunde aber warst du noch gar nicht reif, für ein Leben auf eigene Faust. Weil aber die Gebote des Meisters Kong es vorschreiben, musstest du von zu Hause fortziehen. Das war sicher richtig so, denn es ist ja undenkbar, dass ein ausgewachsener Sohn noch bei den Eltern weilt.“
Yüo und auch Schmalgesicht schwiegen. Nicht nur schwiegen sie, weil sie auf den Früchten kauten, sondern auch dieser überraschenden und aufhellenden Antwort wegen. Der Heiler aber fuhr fort:
„Dann – als du schon einige Zeit bei der Hütte weiltest – flog dir der Bambusvogel zu. Du hattest einen gewaltigen Schatz gewonnen. Du wurdest vom Himmel mit Glück überschüttet. Du warst auf einmal von Freude umgeben. Das aber durfte in Wirklichkeit nicht sein. Diese Art von Freude konntest du nicht zulassen und demnach wurde deine Angst groß, du könntest das alles wieder verlieren, da der kleine Yüo zwar Glück erlebt hatte, dieses aber durch den Unfall zunichtegemacht wurde.“
„Aber nun bin ich doch erwachsen,“ antwortete dieser.
„Ja,“ entgegnete ihm da der Arzt, „äußerlich bist du es, doch - wie ich schon zuvor bemerkte und sei mir deshalb bitte nicht böse - bist du in deiner Seele noch das Kind von früher geblieben.“
Yüo dachte bei sich, während er verlegen von dem Tee und den Datteln nahm, dass er vielleicht deshalb so unsorgsam mit dem schönen Vogel umgegangen war, weil er ihn sowieso nicht verdient habe und er dieses Glück doch nicht festhalten konnte. Wahrscheinlich wäre es ihm auch mit jedem der anderen begehrten Vögel so gegangen. Zhiliao war wirklich ein weiser Mann. Es war sehr still in dem Raum geworden und nach einer Weile fragte Yüo nur verlegen und betreten:
„Und drittens?“
Zhiliao nahm von dem Tee.
„Und drittens. Nun - in dem Kloster angekommen, wolltest du den Göttern noch mehr als zuvor und mit ganzer Hingabe dienen. An Eifer, Edelmut, Vollkommenheit und Selbstverleugnung sollte es nicht fehlen und ja kein Fehler durfte dir bei allem unterlaufen. Dies aber, mein Freund, schafft nicht einmal der Abt des Klosters. So hast du dir dein Leben schwergemacht, weil du dir Gebote auferlegt hast, die von niemandem und auch nicht von dir erfüllt werden können. Du fingest an, dir selbst zu zürnen, weil du dir nicht genügen konntest. Denn nicht nur Gesetze hast du dir selbst geschaffen, sondern auch zu einem der Götter, die über diese Gesetze herrschen und urteilen, hast du dich gemacht.“
Das alles waren starke Worte und nicht nur Yüo war beeindruckt.
Sie nahmen noch von dem Tee und schlürften ihn schweigsam, denn es gab viel zum Nachdenken. Dann aber fragte Yüo:
„Herr, wie kannst du das alles über mich wissen? Soviel habe ich nun doch nicht von mir berichtet. Und dass ich mich zu einem der Götter erhebe, finde ich doch sehr gewagt.“
„Nun, du hast genug erzählt und außerdem sehe ich in deinen Augen, was dein Herz bewegt. Deine Augen sind sehr offen und sie flüstern mir ganze Geschichten über dich zu. Was die Götter anbetrifft, denke doch einfach mal darüber nach, ob du nicht manchmal Schicksal spielst.“
Noch ehe jemand vielleicht etwas sagen konnte, räusperte sich der Arzt und sprach doch recht unvermittelt:
„Wir wollen die Unterredung beenden. Ich habe dieses und jenes gesagt und es ist nun an dir, lieber Yüo, wie ich schon sagte, darüber nachzusinnen. Ich will dir nur anempfehlen, an dir zu arbeiten und Verantwortung für dein eigenes Tun zu übernehmen und auch innerlich erwachsen zu werden. Das merke dir gut: Du darfst glücklich sein. Es ist dir erlaubt und du bist ein Mensch und darfst Fehler machen. Lasse die Wahrheit in deinem Leben zu. Den Gottheiten gegenüber, den Mitmenschen gegenüber und vor allem – dir selbst gegenüber.“
Yüo sah Zhiliao mit großen Augen an. So, als könne dieser seine Gedanken lesen, sprach er noch:
„Wenn du das Böse in dir suchst und findest, wenn du ihm offenen Auges begegnest und es als zu deinem Leben als dazugehörig siehst, dann hast du angefangen, es zu überwinden, dann bist du dabei, die Götter und dich selbst zu finden. Denke daran: Die Dämonen in uns können wir nicht töten – wir können uns nur mit ihnen versöhnen. Das ist der Sieg über das Böse.“
Wir müssen uns umdrehen und den Stier, der uns verfolgt, küssen.
Sie blieben die Nacht im Hause des Heilers. Am frühen Morgen des nächsten Tages, zur Stunde des Drachens, brachen sie auf, nicht aber, bevor sie im nahe gelegenen Tempel ein Gebet gesprochen und zwei Butterkerzen entzündet hatten. Während der Heimreise – abends am Feuer – besprachen sie das, was ihnen der Seelenheiler gesagt hatte. Am dritten Tag begann es, zu schneien. Als Bang-Zhu und Yüo Golmud erreicht hatten, lagen die Stadt und das Kloster unter einer frischen Schneedecke. Yüo liebte diese Jahreszeit und er liebte die weiße Hülle des Winters, spiegelte sie doch eine Grundstimmung seiner Seele wieder. Wie der Schnee das Brachland bedeckte, so machten Verdrängung und heimliche Lüge die Wahrheit unsichtbar – zumindest für eine Zeit lang. Es vergingen die Monate. Doch im Leben des werdenden Mönches gab es keine gute Veränderung. Obwohl er genau gehört hatte, was der Mann aus Qarhan gesagt hatte und er sich nach getaner Arbeit auch hin und wieder mit Bang-Zhu beriet – sein Herz schien für all dies verschlossen.
Beim Herrn des Klosters (2) (28)
Am Ende des ersten Lehrjahres, im letzten Frühlingsmonat, rief der Da Daoshi den Sohn des Bauern Ku zu sich. Dem Tempelfürsten war wohl zu Ohren gekommen, wie sich Yüo im Laufe der Zeit entwickelt hatte. Aus einem scheinbar seelisch starken jungen Mann war ein zutiefst verunsicherter und niedergeschlagener Mönchsschüler geworden. Ein begeisterter Verfechter des Götterglaubens wurde nun von den Dämonen geschüttelt. Der Suchende hatte nicht gefunden, was er wünschte, sondern war auf der Flucht vor sich selbst. Als Yüo zu dem Meister eingetreten war, bemerkte dieser, wie das Blut aus Wangen und Stirn seines Schützlings gewichen war. Der Sohn des Bauern Ku litt scheinbar nicht nur in seiner Seele. Die innere Krankheit hatte auch den Körper in Mitleidenschaft gezogen. Nun aber, in dem blassen Gesicht des Novizen, waren die verwachsenen Narben über dem Auge und auf der rechten Wange in einem schwachen Blau und Rot deutlicher als sonst zu erkennen. Bei diesem Anblick war dem Da Daoshi erneut, als kenne er Yüo irgendwo her. Manchmal des Nachts auf seinem Lager hatte der Abt über den jungen Mann von der Rong-Steppe nachgedacht, wenngleich es natürlich auch noch andere Probleme im Kloster gab. Ihm war aber bisher nicht eingefallen, weshalb ihm der Junge so nahe ging, doch er hoffte, es würde noch geschehen.
Tempelfürst und Schüler befanden sich beide in dem heiligen Raum, wo sich ihre erste Begegnung vollzogen und wo der Herr über die vielen Mönche einst auch Luanxing, Guang und Jiao empfangen hatte. Yüo wollte sich dort niederlassen, von wo er früher nach seiner Ankunft im Kloster den Worten des großen Lehrers lauschte. Doch als der Vorhang im Torbogen zurückgefallen war und sich der junge Mann zu seinem Platz begeben wollte, winkte ihn der Da Daoshi zu sich. Yüo verharrte. Der Fürst wiederholte seine einladende Geste und der Sohn des Bauern Ku richtete mit ungläubigen Augen die Fingerspitzen seiner Rechten auf sich.
„Ich, Herr?“
„Ja, du!“,
bedeutete ihm der Meister mit einem kurzen Kopfnicken. Niemals in den nun über dreißig Wintern und Sommern, seit der einfache Mönch Caifeng-Pidai zum Tempelfürsten erkoren wurde, durfte ein Mensch neben dem Oberhaupt sitzen, obwohl er Platz für zwei bot. Weder die Unterpriester, noch die in das Land Gesandten vor ihrer Abreise, weder die Vertreter des Kaisers, noch die Vorsteher irgendeiner der vielen Provinzen im Reich, durften sich neben ihm niederlassen. Doch nun, innerhalb von wenigen Monaten, war der junge Yüo der Zweite, den der Da Daoshi in seiner unmittelbaren Nähe duldete, ja, es so wollte. Zuvor war es der fremdländische Guang gewesen. Dieser hatte dem Tempelherrn dabei in einem Gespräch erzählt, was er ihm noch schuldig geblieben war. Von den üblen Gerüchten, die um seine Geburt rankten, hatte er berichtet und von dem Wunder, das seinem Bruder Jiao das Erdendasein ermöglicht hatte.
Was genau es bei Guang gewesen war, ihn an seine Seite zu bitten, erkannte der Tempelfürst bis heute nicht. Aber sein Herz wäre nicht zur Ruhe gekommen, hätte er nicht so gehandelt. Indessen bei Yüo spürte der alte Meister, dass dieser junge Novize nicht der war, der er hätte sein können. Der Fluss des Heils und des Segens, die Bahnen von Kraft und Frieden waren verknotet und vermauert. Aber der Da Daoshi wusste von der tiefen Liebe Yüos zu den Göttern. Sie war da – mehr noch als bei allen anderen seiner Schützlinge. Er spürte die bedeutungsvolle Gunst der Götter zu dem Jungen mit den beiden Narben. Yüo versprühte eine besondere Wirkung und Caifeng-Pidai war sich sicher, dass sein Schüler es selbst gar nicht merkte. Es war die Aura der Schutzbedürftigkeit und auch der besonderen Segnung von oben. Ein Blick in seine Augen sagte alles. Allein, Yüo schien sich dessen tatsächlich nicht bewusst zu sein. Womöglich war das gut so, zu seiner Sicherheit. Der Abt wusste genau, dass sein Herz ihn nicht täuschte: Dieser junge Mann musste seinen Weg bereits vor vielen Jahren gekreuzt haben. Caifeng-Pidai war einst selbst ein schüchterner Mönch gewesen, der unauffällig und zurückhaltend Lehrstunden und körperliche Arbeit hinnahm. Niemand, wohl wirklich niemand hatte geglaubt, dass er in die Fußstapfen des hochverehrten und heiligen Abtes Waizufu treten würde. Dieser hatte zuvor über fünfzig Jahre die Geschicke des Klosters geleitet und endlich den Bau der heiligen Stätte abgeschlossen. Dennoch war sein Dahingehen für alle überraschend gekommen. Sieben Tage nach dem Begräbnis des Alten kam die Versammlung der Brüder zusammen und man bestimmte den jungen Caifeng-Pidai zu seinem Nachfolger. Dieser betrachtete sich nicht als würdig für das ihm zugesprochene Amt. Doch die anderen ermutigten ihn dazu und sprachen ihm ihr Vertrauen aus.
Das Kloster der Adler aber war einst während der Regentschaft des Kaisers Han Wudi gegründet worden. Der damalige Präfekt sandte den Grundstein für den heiligen Bau, der mit diesen Worten versehen war:
‚Wer einen Tempel baut, dem bauen die Götter ein Haus in der Ewigkeit.’
Nun, unter der weltlichen Macht des Kaisers Wang Mang, war er der Tempelfürst und es war ihm ein Verlangen, dem geschüttelten und scheinbar von Yin und Yang verlassenen jungen Novizen etwas von der selbst erfahrenen Güte weiter zu geben. Yüo setzte sich etwas zögerlich auf den Thron. Wieder war der Raum gesättigt von dem Duft der entzündeten Hölzer, deren Rauch in kunstvollen und nicht vorher bestimmbaren Schleifen hinauf zur Decke zog und es schien, als wolle der Drache durch sein geöffnetes Maul die Schwaden in sich aufsaugen. In den Öllampen flackerte das Feuer. Einem bronzenen Gefäß entströmte der Geruch von verbranntem Tannenharz. Vor ihnen standen zwei Schalen aus Porzellan und eine kunstvoll geformte Kanne aus demselben. Der Abt hob seine ausgebreiteten Arme und sprach dies Gebet:
„Willst du etwas schmaler machen,
musst du es sich vorher weiten lassen.
Willst du etwas loswerden,
musst du es vorher blühen lassen.
Willst du etwas nehmen,
musst du es zuvor geben.
Das Weiche überwindet das Harte.
Das Langsame überwindet das Schnelle.
Lass dein Wirken ein Geheimnis bleiben.
Zeig den Menschen nur das Ergebnis.“
Nachdem Yüo sein ‚shide shi’ gesprochen hatte, beugte sich der Da Daoshi vor und gab ein wenig von dem Wulong in die Schale seines Gastes. Desgleichen tat er bei sich. Beide nahmen einen kleinen und vorsichtigen Schluck von dem köstlichen Tee. Dann legte der Alte seinen rechten Arm um den Yüo. Er war sich im Klaren, dass das, was er nun sagen würde, nicht mit dem in Einklang war, was er gelernt hatte und was er selbst lehrte. Er, der Hüter der drei großen Säulen und Wahrheiten und Verkünder von Shan, Zen und Ren - von Barmherzigkeit, Wahrheit und Nachsicht. Aber es gab Zustände im Leben, die ein Abweichen von all dem, was die heiligen Schriften sagen, notwendig machten und die zeigten, dass nichts in dieser Welt allumfassende Gültigkeit hat.
„Mein Sohn“, begann der Tempelfürst. Er schaute zur Seite, Yüo in die Augen.
„Du hast nun fast ein Jahr in diesem Kloster verbracht und es deucht mir, die nächsten beiden hier bei uns müssen anders werden. Du bist nun heute Gast bei mir, weil ich dir für die Zukunft einen guten Rat geben will.“
Er nahm die Rechte zurück, legte beide Hände in den Schoß und blickte nach dort. Yüo aber schien erleichtert. Er hatte erwartet, dass ihn der Abt vielleicht bitten würde, das Kloster wieder zu verlassen, um zu seiner Hütte zurückzukehren. Er selbst zweifelte ja des Öfteren an der Richtigkeit seines Hierseins und er war zornig geworden, weil ihn sein Herz wohl belogen hatte. Oder war es einfach so gewesen, dass der Wunsch, dem Luanxing und seinen beiden Begleitern zu folgen, so stark war, dass er die Wahrheit seines Herzens nicht mehr erkennen konnte?
Xiong you cheng zhu – wer Bambus malen will, der trägt schon das Bild in seinem Kopf!
Nun aber - die Worte seines Herrn ließen Licht in seine Seele kommen und ihm ward wohl ums Herz. Während Yüo so hin und her dachte, wandte sich der Klosterherr ihm wieder zu und fuhr fort mit seinen ernsten und ruhigen, aber einfühlsamen und liebevollen Worten.
„Siehe, mein Anbefohlener, hier in diesen Mauern leben viele Menschen mit den verschiedensten Aufgaben. Die einen sind Schüler, die anderen Lehrer, wieder einige sind Arbeiter oder stille Beter. Manche sind Gäste für ein paar Tage, manche ziehen noch am Abend weiter. Doch jeder hat seinen Platz und seine Verantwortung und jeder von ihnen tut sein Werk in Bescheidenheit, in Ruhe und in Sanftheit. Alle aber sollen dabei auf den anderen achten, ihm raten, ihm zuhören, ihn unterstützen, ihn ermahnen, ihm tatkräftig helfen. So, wie eine Kette nur dann entsteht und Bestand hat, wenn jedes Glied in das andere greift, so kann unsere Gemeinschaft nur im Miteinander gelingen. Doch du stehst am Rande, du glaubst, nicht wichtig für dieses Kloster zu sein. Deine Seele hat sich zusammengezogen, dein inneres Feuer ist wie der glimmende Docht der Butterlampe.“ Der Da Daoshi ließ eine Pause folgen. Yüo empfand die Worte sehr wohl als Tadel, aber sie waren angesichts der Tatsache, dass er nicht von hier fortgeschickt wurde, erträglich. Der junge Novize nickte also dem Herrn demütig zu und dieser sprach so weiter zu ihm:
„Trotzdem, auch wenn du am Rande dich befindest, so fällst du doch in diesen heiligen Mauern auf und vielleicht gerade deshalb. Schau, jeder Fluss auf dieser Erde, ob er groß und mächtig, ob er klein und unscheinbar ist, verliert seinen Namen, wenn er in das Meer mündet. Sein Wasser geht über in den Ozean und trotzdem nimmt dieser weder zu noch ab. So sollte es eigentlich auch mit jedem von uns sein - gerade in der Gemeinschaft des Klosters, wo sich jeder still einfügt und das Leben innerhalb der Mauern so im Gleichmaß bleibt. Doch du bist wie ein eckiger Felsen in diesem Strom. Ja, auch du bist still – aber du bist zu still. Ab jetzt wirst du so leben, als seiest du der wichtigste aller Mönchsschüler in diesem Kloster.“
Yüo hatte aufmerksam und ergeben seinem Herrn zugehört. Bei dessen letzten Worten blickte er doch erstaunt und in seinen Augen blitzte es. Hatte der Abt nicht gerade noch davon gesprochen, sich selbst aufzugeben, um der Gemeinschaft unauffällig und still dienen zu können? Hatte er nicht im Lehrsaal immer von Bescheidenheit, Duldsamkeit und Zurückhaltung gepredigt? Und nun sollte er so tun, als wäre er der Bedeutendste von allen! Hatte er richtig gehört, hatte er genau verstanden, was der Alte auch meinte? Die Augen des Da Daoshis verrieten, dass er um den Gemütszustand seines Novizen wusste. Er ging aber zunächst nicht darauf ein, sondern fuhr mit einem lächelnden Herzen und doch ernstem Blick fort:
„Du wirst in der nächsten Zeit so leben, als wärest du der begabteste Arbeiter in den Werkstätten und der weiseste Beter vor den Altären. Lasse deiner Phantasie den Lauf des wilden Pferdes und lasse ihre Spuren für alle sichtbar sein. Fragt dich jemand um Rat, dann sage zu ihm, was du über diese Angelegenheit denkst. Wenn ihr als Schüler vor einer neuen Herausforderung des Lebens steht, scheue dich nicht, den ersten Schritt zu machen. Gehe bei der Arbeit im Klostergarten mit Pflanzen und Tieren so um, als seien sie deine Brüder und Schwestern. Und habe Acht auf deinen Bambusvogel, denn er ist – so bin ich sicher – ein Geschenk der Götter an dich.“
Der Tempelfürst wartete nun ab und schwieg, um seinem Gast Gelegenheit zu geben, das zu sagen, was zu sagen war. Yüo war sich nicht sicher, was er antworten sollte. Er hatte große Ehrfurcht vor dem Alten und wollte ihn nicht durch eine falsche Bemerkung in Beschämung bringen. Außerdem hatte ihm die Bemerkung zu dem Niau-Zhuzi einen Stich ins Herz gegeben, denn als eine Gabe vom Himmel sah Yüo den gelben Vogel schon lange nicht mehr. So schwieg der Novize und sein Gesicht bekam Röte. Erst als der Alte ihm noch einmal Mut machend zunickte, sprach Yüo:
„Herr, verzeih, wenn ich so rede. Ich fürchte, dich nicht richtig verstanden zu haben. Wenn ich deinen Rat befolgen würde, dann kann ich mein Werk nicht in Sanftheit, in Ruhe, Stille und Zurückgezogenheit tun; dann kann ich nicht gleich einem der Flüsse sein, von denen du im Gleichnis sprachst. Verzeih, aber meine Sinne sind deswegen verwirrt.“
„Ja, mein Sohn, das glaube ich dir gerne. Aber du bist noch nicht soweit. Denke an mein Gebet, das ich anfangs gesprochen hatte.
Du musst erst das Eine ausleben, um das Andere mit Leichtigkeit und ohne Wissen befolgen zu können. Die Wahrheit ist ein Widerspruch.“
Zögernd nickte nun der junge Novize.
„Herr, glaube mir, wie ich mich meiner Entwicklung, seit ich in Golmud bin, schäme. Ich wünschte, die Dinge wären in eine andere und bessere Richtung gelaufen. So ist es auch mit dem Bambusvogel. Ich ...“
Der gütige Meister aber ließ seinen Schüler nicht aussprechen, sondern hob einhaltend die Hand und sprach:
„Erinnerst du dich, wie der Gattin des Kaisers zur Zeit der Streitenden Reiche eine versponnene Raupe gereicht wurde, und wie ihr diese in den Tee fiel?“
„Herr, davon habe ich bisher nicht gehört.“
„Nun, denn vernehme, was geschah.“
Der Tempelherr nahm noch einen Schluck von dem Cha und der Novize tat es ihm gleich.
„Was ereignete sich dann? Als die hohe Frau die Raupe aus der Schale herausfischen wollte, zog sie einen endlos scheinenden Faden hervor. So entdeckte sie die Seide. Wisse, dass auch dein gegenwärtiger Zustand schon morgen eine Wende zum Guten nehmen kann, glaube daran. Noch etwas will ich dir sagen: Höre auf damit, den Göttern für den Bambusvogel zu danken. Vielmehr schenke ihm jeden Tag ein Stückchen mehr an Zuwendung.“
„Ja, Herr, du hast recht. Zwar hatte ich von dir bisher nur von Demut und Bescheidenheit, Ruhe und Gelassenheit gehört, aber ich will deine Worte gerne befolgen und den Weg im Vertrauen gehen, den du mir gewiesen hast. Auch deine Rede über den Bambusvogel will ich beherzigen. Danke dafür.“
Der Da Daoshi nickte.
„Ja, denn bisher war alles Wissen nur in deinem Kopf. Es soll aber auch in dein Herz vordringen und Teil von dir werden. Ich bin gewiss, die Zeit dafür wird kommen und auch das, was bei dir in Vergessenheit geraten ist, wird wieder gegenwärtig sein.“
Yüo nickte und der Meister ließ eine kurze Pause folgen. Dann aber sprach er so:
„Neben allen deinen Pflichten und Angelegenheiten in diesem Kloster solltest du dir auch noch eine Aufgabe suchen, die nicht nur für uns alle dienlich ist, sondern dir selbst auch etwas zur persönlichen Erbauung bringt. In den Abendstunden, wenn die geforderte unsichtbare aber auch wägbare Arbeit erledigt ist, könntest du dich dieser Sache widmen.“
„Herr, dies ist ein guter Gedanke. Würdest du mir ein kleines Stück des Gartens gewähren, dort wo die Kastanien ihre Schatten am Abend werfen? Gerne würde ich dann dort Kräuter der Heilung pflanzen und sie studieren, damit sie uns noch mehr Linderung und Genesung schenken können.“
Der väterliche Herr schien einen Moment zu überlegen und ein kaum merkbares Lächeln umspielte für einen kurzen Moment seine Lippen. Er nickte gütig und sprach:
„Ja, jedoch möchte ich dir die kleine Parzelle bei den Kiefern geben, denn bei den Kastanien arbeiten schon andere Novizen – wie du vielleicht weißt.“
„Das wusste ich nicht, Herr, aber wenn es möglich ist, bitte nicht bei den hohen Kiefern.“
Nun sah der Da Daoshi in den Augen seines Schutzbefohlenen Angst aufblitzen und er fragte ihn:
„Warum nicht?“
„Herr, sie erinnern mich an ein schreckliches Erlebnis in meiner Kindheit.“
Caifeng-Pidai stutzte und sagte nichts. Denn in diesem Moment wusste er, wer der junge Schüler war. Er erkannte in ihm den kleinen und verletzten Buben wieder, jenen, den er auf die Bitte des Vaters hin gesegnet hatte. Sein Herz floss deshalb über von Liebe und Dankbarkeit. Ja, er war es, den er einst mit Öl gesalbt hatte. Er hätte den Yüo jetzt gerne umarmt, sich zu erkennen gegeben, mit ihm geweint und sich gefreut. Aber das wäre nicht im Sinne der Götter und auch nicht gut für ihn gewesen und womöglich schädlich für den werdenden Mönch. So tuend, als wäre er unberührt, sprach er stattdessen:
„Ich werde mit dem Gärtner reden. Vielleicht ist bei der Gruppe von Birken noch Platz.“
Als Yüo den Empfangsraum verlassen hatte und die Dienermönche das Teebesteck wegräumen wollten, schickte der Abt sie hinaus und ließ seinen Tränen hemmungslos den Lauf. Ja, sein Herz hatte ihm die Wahrheit gesagt. Der tot Geglaubte war am Leben. Welch ein Wunder der Götter vor seinen Augen und welch ein Beweis ihrer Liebe.
Von der nördlich gelegenen Stadt Dunhuang aus hatten die Truppen des Kaisers den Schutzwall des Reiches gut zweihundert Li nach Nordwesten weiter bis zur Siedlung Yumenguan getrieben. Hier aber am westlichen Ende des Ortes versperrte den Erbauern ein Bergrücken aus purer weißer Jade den weiteren Weg. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als ein Tor in den Felsen zu schlagen. Dieses Vorhaben kam dem Kaiser zu Ohren und er machte sich von der Hauptstadt Chang-An auf eine monatelange Reise, um selbst das gewaltige Bauwerk einzuweihen. Ein ganzer Tross von Reitern, Bogenschützen und hohen Beamten und die schönsten seiner Konkubinen begleiteten den Machthaber auf dem Weg. Angekommen in Yumenguan, durfte der Kaiser mit einem silbernen Hammer und einem Bronzekeil das letzte Stück Fels wegsprengen und damit dieses prächtige Bauwerk in Gebrauch nehmen. Mit ihm war der erste Teil einer neuen Provinz geschaffen: Land, das den wilden Stämmen der Xiongnuren im Kampf abgerungen worden war. Die neue Provinz aber erhielt den Namen Xinjiang, was soviel wie ‚Grenzland’ bedeutet. Wer aber dieses westlichste aller Tore im Reich durchschritten hatte und weiter gegen Sonnenuntergang reisen wollte, betrat bald unbekanntes und feindliches Land. Obwohl auch schon Dunhuang selbst in eine unwirtliche Gegend gebaut war und für Reisende eine andere Gefahr barg. Diese Stadt war umgeben von Sümpfen in denen Myriaden von Mücken ein menschliches Leben unmöglich machten. Es gab nur eine befestigte Straße von Süden her, auf der Karawanen und Soldatenheere in den Schutz der Mauern gelangen konnten. Auf den Zinnen und entlang der Straße brannten Tag und Nacht von Pech und Schwefel genährte Feuer, um die Plage aus den Pfuhlen von Bürgern und Reisenden fernzuhalten. Von den weit sichtbaren Flammen hatte die Stadt auch ihren Namen erhalten. Gleich hinter den Stadtmauern – jenseits von Dunhuang - ging eine Straße hinauf in das Gebirge. Die Pfade wurden enger und gefährlicher. Als sie auf den Bach, der ihnen auf ihrem Weg in die Berge entgegenfloss, stießen, hatten sich Guang und Jiao den Sud des Tabaks, der sie vor den Mücken schützen sollte, von Hals, Gesicht, Armen und Händen gewaschen. Beide hatten beschlossen, sich auch weiterhin bei den Namen zu rufen, die ihnen einst der Wandermönch, Luanxing, gegeben hatte. Guang hieß eigentlich Joshua und Jiao war von seinen Eltern Johanan genannt worden. Joshua aber bedeutete soviel, wie ‚der Herr ist Hilfe und Rettung’, und Johanan meint ‚der Herr ist gnädig gewesen und ist gnädig’. Manchmal, wenn sich die beiden stritten, oder heftig debattierten, wenn sie ausgelassen waren und wie Kinder alberten oder wenn es um eine gar sehr ernste Sache ging, dann kehrten sie zu diesen Namen zurück. Auch in ihren Träumen waren sie immer noch Joshua und Johanan. Auf ihrem Marsch weiter bis zu ihrem vorläufigen Ziel blieben die beiden im Schutze von Zhong Guo, denn das Pferdehufkloster lag noch diesseits der großen Mauer. Schon einmal waren sie hier bei den Mönchen gewesen, damals, als beide mit dem Luanxing von Tienchou auf dem Wege nach Golmud gewesen waren. Doch nun wollten sie nach Westen.
Nach dem sie das Pferdehufkloster erreicht hatten, blieben die beiden noch zwei Monate bei den Mönchen hier am Rand des Reiches. Als sie wenige Tage vor ihrer Weiterreise mit wehendem Haar auf dem Glockenturm standen und sich westwärts wandten, sahen Guang und Jiao nichts als Steppe und öde Wüste. In Dunhuang, das zwei Tagesritte entfernt lag, hatten sie als Gehilfen eines reichen Kaufmannes von ihrem Lohn zwei zottelige Yaks in der Stadt erworben. Auf diesen waren sie nun auf gewundenen und staubigen Pfaden hinauf zu diesem Ort gekommen. Wäre es noch fünfhundert oder sechshundert Chi weiter in die Höhe gegangen, dann hätten sich leichte Schmerzen zwischen ihren Schläfen bemerkbar gemacht. Deshalb hatte der Gründer des Klosters die Stätte hier, wo das Altun-Shan sich zum Sonne-Mond-Pass hin öffnet, in die Felsen gebaut. Die rot getünchten Mauern des Klosters erstrahlten im Licht des Abends. Mit ihrer Rechten schirmten die Weitgereisten ihre Augen gegen die tief stehende Sonne ab. Der Blick in die Ferne war wohl wunderbar aber auch furchterregend. Linker Hand am Horizont zog sich die Gebirgskette entlang, zu deren Füßen sie damals gemeinsam mit dem Wandermönch, vom Tigermaul-Pass herkommend, hierher gereist waren. Auch rechter Hand zog sich eine Gebirgskette Richtung Westen hin und an ihr lag die wunderbare Oase Turfan. Die klare Luft des Frühsommertages erlaubte es ihnen, fast endlos zu schauen. Vor ihnen weitete sich zunächst die Steppe, flaches Land, mit kurzem und hartem Gras, zwischen dem die Tamarisken, Sauxal und der Kameldorn wuchsen. Die Savanne verwandelte sich später in eine Wüste von braunem mit Steinen übersätem Sand; eine Gegend, in der das Leben schwer war und bis zu der das Auge reichte. Anfangs gab es dort noch vereinzelt ein paar Schafstelzen und Steppenflughühner, Gerbillen, Springmäuse und lästige Insekten. Wird ein Wanderer von diesen Kerbtieren gebissen oder gestochen, dann nehme er von den getrockneten Blättern des Bitterkrautes, kaue kurz darauf und lege davon auf die Wunde. Sehr schnell erfolgt dann Linderung – das Blut gerinnt und die Schmerzen lassen nach.
Doch dann, hinter dem Horizont – so war es vorsichtig von den Bewohnern des Klosters erzählt worden - verwandelte sich das Land bis hin zu einem großen See in eine Salzwüste. Diese Öde, die kein Leben und keinen Schatten kennt, wurde auch von den Mutigsten gemieden und es gab nur wenige, die aus dieser Gegend zurückgekehrt waren. Deshalb rankten sich viele und wilde Geschichten um diese Wüste. Es gab wenige verwegene Männer, die behaupteten, dort in dem Nichts würde es an verborge